{1} E-moll

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Er beobachtete schweigsam die Hände seines Gegenübers. Sehnig, arbeitsam. Seite um Seite blätterten sie durch die Dokumente, die er ihnen vorgelegt hatte. Die trockenen Fingerkuppen entlockten dem Papier ein angespanntes Knarzen; unter seinen ginge es ihm vermutlich besser. Allerdings war sein Empfinden kein Maßstab für Gefühle. Er war ein haptischer Autist, empfand nahezu jede Berührung als unangenehm. Der einzige Kontakt, nach dem er sich unnachgiebig gesehnt hatte, war der zwischen seinen Fingerkuppen und den Tasten gewesen.

»Ich sehe, Sie wurden am vierzehnten Februar geboren, Herr Hasenick?«, meinte die bebrillte Dame und lächelte ihn freundlich an. »Ich wünsche Ihnen alles Gute zum zwanzigsten Geburtstag.«

»Danke«, antwortete er und löste seinen Blick von ihren matt schimmernden Fingernägeln. Allein die Vorstellung, wie sie tagaus, tagein in den Leibern kranker Kleinsäuger herumfuhrwerkten, hinterließ eine feine Übelkeit in seiner Kehle.

Ausgerechnet eine Tierarztpraxis. Die Sachbearbeiterin des Jobcenters hatte ihn vermutlich auf die rote Liste gesetzt, nachdem er ihr den Handschlag vorenthalten hatte. Obwohl er ihren Missmut nachvollziehen konnte, verstand er nicht, warum sie ihn absichtlich quälen musste. Es gab keinen Ort, an dem er sich weniger gern aufhielt als in diesem Behandlungsraum. Und keine Zeit erschien ihm unpassender.

»... interessieren?«

»Was?«, erwiderte er und versuchte, die leise Melodie in seinem Kopf zu ignorieren. Er musste sich nur wenige Minuten auf das Hier und Jetzt konzentrieren.

»Ich fragte, aus welchem Grund Sie sich für ein Praktikum in der Tiermedizin interessieren? Haben Sie selbst Haustiere? Oder sind Sie im Umgang mit Hunden und Katzen anderweitig vertraut?«

»Ich war mal in einem Streichelzoo.«

»Beschäftigt?«

»Nein, zum Streicheln.«

Sein Vorstellungsgespräch hatte sich soeben rapide verkürzt. Er wusste um die Respektlosigkeit seines Verhaltens, doch er agierte im Interesse beider Parteien. Sie würde keine Verwendung für seine berührungsphobischen Gewohnheiten haben und ihm lief allmählich die Zeit davon. In spätestens sieben Minuten musste er den Bus ins Zentrum nehmen. Sonst war alles, worauf er jahrelang hingearbeitet hatte, bedeutungslos.

Die Dame hob die Brauen und widmete sich erneut seinen Akten, denen kaum ein positiver Aspekt zu entnehmen war. Demotiviert, unkonzentriert, schusselig und nicht teamfähig. Selbstverständlich in wesentlich salbungsvolleren Worten, dank der Sachbearbeiterin seines Vertrauens.

»Ich möchte Ihnen eine Chance geben, Herr Hasenick. Ihren Schulnoten zufolge hat Ihnen das Lernen bis zur neunten Klasse keine Schwierigkeiten bereitet. Wobei ich zugeben muss, noch nie solch einen Leistungsabsturz in der Biographie eines Bewerbers gesehen zu haben. Ist etwas vorgefallen, das Ihren ... Lebenswandel beeinflusst hat?«

Natürlich. Aber sie würde es nicht verstehen. Das tat niemand.

»Meine Eltern sind gestorben«, antwortete er und blickte zur Seite, um nicht frontal von ihrem Mitleid erschlagen zu werden. Das war zwar nicht gelogen, lag jedoch länger zurück, als er sich erinnerte; er hatte seine leiblichen Eltern kaum kennengelernt. Eine bessere Ausrede fiel ihm allerdings nie ein. Und die Musik in seinen Ohren wurde immer lauter.

»Das tut mir leid«, meinte die Tierärztin aufrichtig. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber wäre es nicht vorstellbar, gerade nach diesem Schicksalsschlag etwas an Ihren Lebensumständen zu ändern? Ein geregelter Tagesablauf und ein kleiner Zuverdienst können sehr viel in einer festgefahrenen Lage rühren. Der Umgang mit Tieren ist heilsam, das versichere ich ...«

»Ich weiß«, unterbrach er sie und seufzte. Vor diesem Punkt eines Gesprächs graute es ihm jedes Mal aufs Neue. »Hören Sie ... ich will Ihre Zeit nicht verschwenden. Ich bin nur auf Zwang des Arbeitsamts hier. Ehrlich gesagt interessiere ich mich kein bisschen für Tiere.«

Nicht einmal die Tonlage ihres Gejammers ging ihm nahe, obwohl ihn alles an der Musik interessierte. Seit er einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte er sich nichts weiter gewünscht, als eines Tages allein mit seinem Talent und seinem Fleiß Konzertsäle füllen zu können. Fremden Menschen Tränen in die Augen zu spielen, Sinfonien in ihren Köpfen klingen zu lassen, die sie noch nachts im Traum verfolgten. Er wollte bewegen, reizen und ... ja, vielleicht wollte er berühren. Bis dieser eine Tag ihm den Takt aus dem Herzen gestohlen hatte.

Die Tierärztin schwieg und betrachtete das veraltete Passfoto auf seinem Anschreiben, welches einen Jungen mit einer Vision zeigte. Nicht ihn.

»Das ist bedauerlich. Ich hätte Ihnen gern geholfen.«

»Danke für Ihre Zeit«, erwiderte er und ließ sich die Mappe mit seinen dokumentierten Misserfolgen überreichen, ehe er sich erhob. »Helfen Sie lieber irgendwelchen Kaninchen. Für die macht das noch halbwegs Sinn.«

Ihm war bewusst, wie unfreundlich er dieser Frau begegnete, als er sich sein Erscheinen quittieren ließ und ohne Abschiedsgruß den Raum verließ. Doch wenn er nicht endlich aufbrach, würde er niemandem mehr etwas vorzuspielen brauchen. Weder auf dem Klavier noch auf emotionaler Ebene.

Vielleicht verabscheute er diesen Taugenichts, der auf dem Gang alle fußkranken Hunde ihrem Schicksal überließ, um einer Träumerei nachzujagen. Aber er würde sich all seine Fehler verzeihen, wenn er heute die Chance ergriff, in zwei Minuten in den Bus zur Konzerthalle zu steigen und das Notenblatt, das er als letzte Seite in seiner Mappe geheftet bei sich trug, in einem grandiosen Auftritt vor Dutzenden Menschen zu präsentieren. Eine Show, die nur er ihnen bieten konnte. Daran wollte er glauben.

Doch sein Leben war keine Sinfonie mit Paukenschlag.

Das wurde ihm bewusst, als er die Praxistür öffnete, den Bus auf der anderen Seite der Straße stehen sah und ihn gewiss noch erreicht hätte. Wäre nicht dieses überraschte Gesicht vor ihm aufgetaucht.

Das Gesicht des Menschen, der ihm an genau diesem Tag vor fünf Jahren seine Zukunftsmelodie gestohlen hatte.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt