{22} Facing Facts, pt. 2

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Alles um ihn herum schien zu leuchten, als er dem hoheitlichen Gang zwischen den Sitzrängen abwärts folgte. Majestätisch golden, prunkvoll kristallen. Die Atmosphäre des Moments wirkte auf ihn genau so perfekt wie in seinen Träumen. Nur dass er in ihnen selbst den gewaltigen Saal mit Leben erfüllt hatte, seinen Schöpfungen, seiner Musik. Nun fand er sich auf der gegenüberliegenden Seite wieder, unterhalten von den Klängen anderer. Oder vielmehr von ihren Versuchen, seinen festgesetzten Argwohn zu zerstreuen.

Kasimir achtete auf jeden seiner Schritte, während er sich allmählich wieder der Reihe näherte, die Leonhard Valentin für ihn und seine Begleitung auserkoren hatte. Mittig, sehr weit vorn, mit Sicherheit die teuerste Preiskategorie. Er hatte genau gewusst, an welcher Stelle sich der Klang am lebhaftesten entfaltete, von wo aus man die beste Sicht auf die Bühne und die Darbietungen hatte. Er hatte ihm sozusagen die schlimmstmögliche Position verschafft, um hilflos dabei zuzusehen, wie sich alles, was er je gewollt hatte, in greifbarer Nähe befand – und doch unerreichbar für ihn blieb.

Cecilie hielt Ausschau nach seinem ordentlich gescheitelten schwarzen Schopf, den sie persönlich gerichtet hatte. Als sie ihn erspähte, hob sie winkend die Hand und Kasimir drängte sich etwas unverfroren an all den elegant gekleideten Herrschaften vorbei, die ihn kritisch musterten, als er ihnen kurzzeitig den Blick auf die leere Bühne versperrte. Schließlich sank er seufzend auf seinen gepolsterten Sitz und rieb sich müde die Augen. Bis zum letztmöglichen Moment ließ ihn dieser Mistkerl warten.

»Du hast Nerven«, flüsterte Cecilie. »Nicht die feine Art, mitten in der Arie aufzustehen und aufs Klo zu gehen. Wobei ich dich echt beneide, mir platzt auch bald die Blase. Hättest dich ruhig mal die fünf Minuten zusammenreißen können, laut Programm steht nur noch ein Auftritt aus.«

Richtig. Genau diese eine Darbietung hatte er um nichts in der Welt verpassen wollen. Auch wenn er sich selbst dafür verabscheute, dass sich allmählich Anspannung in seiner Brust festzurrte. Wieso war er aufgeregt? Wie genau war es seiner Schwester überhaupt gelungen, ihn trotz allen Widerstandes hierher zu zerren? Eigentlich hatte er auf keinen Fall so handeln wollen, wie es dieser Kaninchenfetischist für ihn arrangiert hatte. Jetzt saß er hier, in seinem pechschwarzen Anzug, demselben wie damals, und wartete darauf, dass sein Rivale ihn öffentlich vorführte. In welchem Punkt seiner Erziehung hatte seine Großmutter eigentlich dermaßen versagt?

Cecilie zupfte an seinem Ärmel und musterte ihn aufmerksam. »Wir sollten uns bald nach einer neuen Robe für dich umsehen, diesem Jackett bist du echt langsam entwachsen. Mit sechzehn bist du nochmal derart in die Höhe geschossen, dass fast alle Klamotten, die Papa dir vererbt hat, unbrauchbar geworden sind.«

Sicher. Allerdings spielte das keine Rolle, er hatte seit seinem letzten Vorstellungsgespräch vor zwei Jahren gänzlich auf formelle Kleidung verzichtet. Dass er sich zu diesem Anlass noch einmal in sein altes Bühnenoutfit zwängen musste, bildete eine absolute Ausnahme. Er hatte es nicht länger nötig, sich angemessen zu kleiden, sich zu schmücken, um die Blicke fremder Menschen zu täuschen. Allein Cecilie zuliebe hatte er sich ein letztes Mal dazu breitschlagen lassen. Und natürlich, um zwischen all den Smokings, die ihn umgaben, nicht aufzufallen. Leonhard Valentin sollte ruhig glauben, dass er seine Einladung boykottiert hatte. Diese finale Genugtuung würde er ihm nicht gönnen.

Die einarmige ›Königin der Nacht‹, deren Getriller er vom Bad aus nur dumpf wahrgenommen hatte, war nach abebbendem Applaus von der Bühne verschwunden. Lediglich ein schwarzer Fazioli fokussierte die Blicke aller Anwesenden auf die Mitte der großflächigen Anhöhe. Bisher hatte noch kein einziger Pianist sein Können unter Beweis gestellt, also lief alles darauf hinaus, dass ein Klavierstück den Abschluss des Galakonzerts markieren würde. Durch die Hand eines allerhöchstens mittelklassigen Jungpianisten.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt