{78} Easy, pt. 10 - Natural

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»Was fällt dir ein, mich so auflaufen zu lassen?!«, keifte Francesca, als sich Leo neben ihr niederließ. Seine Hände fühlten sich verkrampft an, die scharfen Anschläge hatten Kraft gekostet. Zwar bezweifelte er, dass die Schmerzen in seinen Fingerknöcheln durch die Zerstörung seines Trommelfells kompensiert werden würden, aber Franna sah das offenbar anders. »Warum in aller Welt hast du das getan?«

»Keine Ahnung. Hatte Lust dazu?«, erwiderte er und spürte förmlich, wie ihr Ärger ins Unermessliche stieg.

»Ist dir klar, dass das eben deine Disqualifikation hätte bedeuten können? Die Jury war kurz davor, diese Schmierenkomödie abzubrechen!«

»Schon gut, Franna, bleib ruhig. Die hören uns alle ...«

»Ist mir egal, du Holzkopf! Du wolltest ganz offenbar Aufmerksamkeit, jetzt bekommst du sie!«

Leo seufzte und tauschte einen flüchtigen Blick mit Paula, die sich als seine unfreiwillige Komplizin sichtlich unwohl fühlte. Die gesamte Sitzreihe verfolgte interessiert Francescas verbalen Amoklauf.

»Ist doch gut gegangen, oder nicht?«

»Ja, ganz toll. Weil Kasimir die Juroren überzeugen konnte, dich wegen des Regelverstoßes nicht vom Finale auszuschließen«, zischte sie etwas ruhiger, nachdem der Begrüßungsapplaus seines Konkurrenten ihre Schmährede zerschnitten hatte. »Wieso bist du nicht einfach dankbar für die Chance, die du hier erhältst?«

»Weil ich den Sieg nicht geschenkt bekommen will«, gab er zurück und beobachtete, wie Kasimir und Dawid auf der Bühne flüsternd letzte Absprachen trafen. Als sich ihre Blicke trafen, wich Kasimir ihm aus.

»Du brauchst ihn aber auch nicht gewaltsam von dir wegzustoßen«, erwiderte Franna missgestimmt. »Schön und gut, wenn du dich an mir rächen willst, aber tu das bitte nicht auf deine eigenen Kosten ...«

Ein kurzes Klingeln unterbrach sie und die Aufmerksamkeit im Saal fokussierte sich wieder auf die Stiftungsvorsitzende, die neben den Flügel getreten war und ihre Hand auf die polierte Oberfläche legte.

»Meine Damen und Herren, ich möchte Sie im Namen aller Juroren für die kurze Verzögerung um Verzeihung bitten. Leonhards Programmpunktvariation hat doch für einiges an Gesprächsstoff gesorgt.«

Leo genierte sich ein wenig unter ihrem sanftmütigen Blick. Wahrscheinlich hatte er es zum Großteil ihrer Nachsicht und der langjährigen Bekanntschaft zu verdanken, dass er noch im Rennen war.

»Nun möchten wir aber gern fortfahren mit unserem zweiten Arrangement, dem Lied ›Natural‹ der US-amerikanischen Band Imagine Dragons. Ich denke, Kasimir hat dieses Stück nicht ohne Grund ausgewählt. Habe ich recht?«

Nun wandte sie sich Leos Konkurrenten zu, der ganz offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, dass ihn vor seiner Darbietung noch einmal ein Aufmerksamkeitspfeil mitten in die Brust treffen würde. Als er nervös Dawids Blick suchte, musste Leo schmunzeln. An seiner Bühnenausstrahlung musste er definitiv arbeiten. Dawid, der wie selbstverständlich ans Mikrofon trat, war ihm diesbezüglich um Welten voraus.

»Ganz richtig«, sagte er lächelnd. »Der Song handelt vom eisernen Willen, sich entgegen aller Widrigkeiten durchzubeißen, auch wenn man Opfer bringen muss. Der Titel bedeutet ›Naturtalent‹. Ich schätze mal, das trifft auf uns beide zu. Auf mich allerdings deutlich mehr.«

Daraufhin erhob sich heiteres Gelächter im Publikum. Leo sah Dawid an, wie sehr es ihm gefiel, im Rampenlicht zu stehen. Kasimir hingegen wirkte mit seinem zerknirschten Gesichtsausdruck etwas deplatziert und verlor keine Zeit, sich der Aufmerksamkeit durch die Flucht zum Flügel zu entziehen.

All Eyes On Me [1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt