Kapitel 41

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Sicht Wincent

„Wincent!"

„Verdammt! Wincent!", hörte ich in der Ferne Annis Stimme und hatte kurz darauf eine großen Schluck Wasser im Gesicht. Ich schreckte hoch und japste nach Luft. „Was is? Alles gut?", presste ich hervor. Mein Herz schlug mir direkt bis zum Hals. Anni zog ein schmerzverzerrtes Gesicht und ich griff sofort nach ihrer Hand. Fuck, ich war wohl echt voll weggenickt. Ich rutschte näher zu ihr hin und strich ihr über die Wange, während sie die Wehe veratmete. Und die hörte sich anders an, als bisher. „Meine Güte, hast du einen guten Schlaf", stöhnte sie, nachdem die Wehe abgeflacht war. Ich vernahm ein leichtes Schmunzeln in ihrer Stimme. „Sorry", murmelte ich und strich mir über das Gesicht. „Irgendwas is anders,", meinte sie, „aber Merle kommt gleich". Ich brauchte kurz noch ein paar Augenblicke, um mich zu akklimatisieren. Selten war ich so krass aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Bei jeder Wehe drückte Anni meine Hand so fest, dass ich mir sicher war, die würde mir nach dem heutigen Tag auf jeden Fall abfallen. Wie kann jemand so Kleines so viel Kraft haben? Als Merle wieder zu uns in Zimmer kam, hielt sie mir zuerst einen Kaffee hin. „Du siehst so aus, als könntest du den gebrauchen", schmunzelte sie. Oh, wie Recht sie hatte. Ich nutzte den Moment, als Merle Anni untersuchte, und ging kurz zur Toilette. Ich brachte kurz Marco und meine Mum auf Stand, schließlich hatten die seit unserem überstürzten Abgang am Abend nichts mehr von uns gehört. Ich war mir zwar sicher, sie würden schlafen, schließlich war es grade kurz nach vier, aber dann hätten sie wenigstens am Morgen einen positive Nachricht von uns auf dem Handy. Wir waren jetzt seit knapp sechs Stunden hier, stellte ich fest. Wo war die Zeit nur hin? Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und machte mich dann auf den Rückweg. Anni saß mittlerweile auf ihren Knien, noch immer in der Wanne und hing mit ihrem Oberkörper halb über dem Wannenrand. Merle lächelte mich an, als ich zurück kam und mich vor Anni setzte. „Es dauert nicht mehr lange.", meinte Merle und klopfte mir auf die Schulter, „sie macht das großartig und eurer Kleinen gehts auch gut.". Ich nickte nur. Ganz verstehen konnte ich nicht, was genau sie meinte. Dass es nicht mehr lange dauern würde. Aber sie ließ uns nicht mehr alleine, das wurde mir aber erst viel später bewusst. Ich strich Anni die Haare aus der Stirn, gab ihr Wasser und hielt ihre Hände. Sie krallte ihre Fingernägel in meine Arme, dass man sicher noch nächste Woche die Spuren davon sehen würde. Ich bewunderte Anni für ihre Ruhe, denn ich wusste nicht, wie ich in dieser Situation handeln würde. Ich würde wahrscheinlich binnen drei Sekunden mit allen Schimpfwörtern der Welt um mich werfen. Gerade hatte Anni mal eine längere Pause und sah mir tief in die Augen. „Ich liebe dich so", flüsterte sie und strich mir durch die Haare. Das hatte sich bis vor wenigen Sekunden noch anders angehört, aber es war nicht der richtige Moment für blöde Sprüche meinerseits. „Ich dich auch", erwiderte ich sanft und mein Herz überschlug sich beinahe. Ich begriff, dass sie grade mein Kind auf diese Welt brachte, und plötzlich wurde alles ziemlich real. „Ich bin so stolz auf dich, du machst das so toll.", sagte ich bestimmt zum hundertsten Mal an diesem Tag. Aber es war die Wahrheit, niemals könnte ich das aushalten, was sie gerade seit Stunden aushielt. „Ich will sie einfach nur noch kennenlernen.", murmelte Anni. Dann kam schon die nächste Wehe und sie krallte sich wieder in meine Arme, noch heftiger als die ganze Zeit schon. „Super, Anni, du hast es gleich geschafft.", hörte ich Merles Stimme im Hintergrund. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, aber urplötzlich seufzte Anni auf und ließ meine Hände los. Sie ließ sich nach hinten sinken und blickte an sich herunter. Ich traute mich nicht ihrem Blick zu folgen, sondern sah die ganze Zeit in ihr Gesicht. Dieses zufriedene, leicht debile Lächeln ließ mein Herz nur noch schneller schlagen. Sie griff vor sich ins Wasser und zog langsam ein kleines, schrumpeliges Baby an die Oberfläche. Wie in Zeitlupe legte sie sich unser Mädchen auf die Brust und ihr erster Schrei ließ mich richtig zusammenzucken. „Sie ist da, Wincent, sie ist da", murmelte Anni immer wieder und griff mit einer Hand nach meiner, während sie die Kleine mit der Anderen fest an sich drückte. Merle lächelte zufrieden und legte ein Handtuch um die Beiden. „Sie ist perfekt.", war das erste, was ich rausbrachte, zu überfordert war ich mit all meinen Gefühlen. Anni lehnte sich vor mich an den Wannenrand, sodass ich den perfekten Blick auf meine Tochter hatte. Aus ihren großen dunkeln Augen blinzelte sie uns an. Anni drehte ihren Kopf zu mir, dass ich sie endlich küssen konnte. „Du hast das so toll gemacht.", schniefte ich und griff über sie nach unserem Kind. Ich strich ihr über die braunen Haare, welche sicher mal so wuschelig werden würden, wie meine und über die winzigen Finger und dabei liefen mir die Tränen nur so über die Wange. Meine Welt blieb stehen in diesem Moment und ich fühlte nichts als pure Liebe. Ich hatte keine Ahnung wie lange wir so da saßen, aber irgendwann begannen wir uns die Kleine endlich mal richtig anzusehen. „Sie hat ganz viele dunkle Haare, wie du.", stellte Anni fest. „Und sie hat deine kleine Stupsnase", fiel mir direkt auf, als ich sie das erste Mal angesehen hatte. Anni drehte sich zu mir um und sah mir mit ihren feuchten Augen tief in meine. „Sie ist so perfekt,", lächelte sie sanft, „hast du gut hinbekommen". Ich musste schmunzeln. „Ich würde sagen, wir haben Beide unser Bestes gegeben.", erwiderte ich und küsste sie. Irgendwann nahm Merle unsere Kleine von Annis Brust und legte sie unter die Wärmelampe und ich musste auf sie aufpassen, während Merle Anni half aus der Wanne zu steigen. Das war der erste Moment, den ich alleine mit meiner Tochter hatte. Ich schaute sie mir nochmal ganz genau an und machte ein paar Fotos, um diese erste Zeit festzuhalten, und um etwas für unsere Familie und Freunde zu haben. Anni hatte sich schon wieder ins Bett gekuschelt, während Merle den ersten Check übernahm und unsere Tochter auf die Waage legte. Ich schrieb brav alle Daten mit und zeigte Anni den ersten rosaroten Fußabdruck unserer Kleinen. „Wie soll sie denn nun heißen?", fragte Merle zum Schluss. Ich sah zu Anni und sie nickte nur. „Julith. Julith Neumann", sagte ich. Merle übergab mir meine Tochter und ich legte sie vorsichtig neben Anni ab. „Willkommen auf der Welt, kleine Julith.", flüsterte sie und küsste sie auf den Kopf. Wieder rollten die Tränen über meine Wangen. Während Anni das erste Mal stillte, betrachtete ich die Willkommenskarte mit dem klitzekleinen Fußabdruck. Ich las jede Zeile bestimmt hundert Mal. Julith Neumann. 1. November 2019. 4:53 Uhr. 2840 Gramm. 51 Zentimeter.


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Zwischen Dir und Mir // Wincent Weiss FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt