tw: mentioning of selfharm/depressive behaviour
Jaemin wird weit nach Jeno wach, und sie liegen noch immer so, wie sie eingeschlafen sind.
"Guten Morgen", flüstert Jeno, als er es bemerkt. Jaemin schnauft nur und vergräbt sein Gesicht an Jenos Hals, um das grelle Licht nicht mehr ertragen zu müssen. Schmunzelnd streicht Jeno über seinen Rücken, in langsamen, liebevollen Bewegungen, und ist still, während Jaemin nach und nach wach wird.
"Ji hat mit Eomma und Appa gegessen", berichtet Jeno währenddessen, "und jetzt sind sie zu dritt unterwegs."
"Hast du auch gegessen?"
"Sieht es so aus, als hätte ich mich wegbewegen können?"
"Nein."
"Da hast du deine Antwort", lächelt er. Jaemin ist so niedlich, wenn er verschlafen ist, Jeno kann gar nicht anders.
"Du musst aber auch essen."
"Wir machen uns fertig und dann finden wir was. Am besten auch was für dich."
"Mhm." Jaemin gähnt in Jenos Schulter und richtet sich dann langsam auf, blinzelt dem hellen Sonnenlicht entgegen. Sein Freund folgt ihm gleich darauf, und als Jaemin so weit ist, stehen sie auf und gehen gemeinsam ins Bad.
Ein Café ein paar Straßen weiter versorgt sie mit Essen, und sie frühstücken auf dem kleinen Balkon ihres Hotelzimmers. Die Sonne scheint, unter ihnen ist es typisch laut, und sie beide fühlen sich wohl. Jaemin isst trotzdem sehr wenig – aber er tut es überhaupt, und das reicht schon.
Im Anschluss holen sie sich Bücher und ihre Handys nach draußen, Jaemin nimmt auch eine Tüte Gummipfirsiche mit, und in Jenos Hoodie gekuschelt lehnt er sich gegen dessen Schulter, mit dem Rücken, um Schatten auf seine Buchseiten fallen zu lassen.
Lange sitzen sie so in Stille, Jeno blickt hauptsächlich über das Geländer in die Ferne, ihm ist es zu hell für sein Handy oder das Buch.
"Davon hast du geträumt, oder?", fragt er irgendwann leise. "An meinem Geburtstag?"
"An die Rückmeldungen deiner Lehrer erinnerst du dich nicht, aber an eine kleine Sache vor vier Monaten?" Jaemin legt das Buch zur Seite und dreht sich so, dass er sich an Jeno schmiegen kann. "Aber ja, ist es."
"Hmm." Jeno drückt ihm einen Kuss auf die Stirn. "Prioritäten. Die muss man im Alter setzen."
"Du bist neunzehn, Jeno."
"Alt genug."
"Neunzehn", flüstert Jaemin, als er realisiert, was das heißt.
Er selbst ist auch neunzehn. War siebzehn, als sie sich kennengelernt haben. Es erscheint ihm unwirklich, wie schnell die Zeit vergeht. Mit jedem Geburtstag hat er sich gewundert und dafür verflucht, ein Jahr älter geworden zu sein – aber jetzt? Seine Tage sind schöner, nicht alle von ihnen, aber wo er früher gar keine hatte, ist jetzt ein einziger schöner Tag ein massiver Unterschied. Er arbeitet immer noch daran, seine eigenen Wunden zu heilen, doch es geht ihm schon so viel besser. Vielleicht hat er es nie realisiert, so langsam, wie es geschehen ist, aber wenn er jetzt zurückblickt auf den Sommer vor scheinbar endlosen Jahren, in dem er sich selbst versorgen musste, obwohl ein Notarzt der richtige Ansprechpartner gewesen wäre...
Die Sonne in seinem Gesicht brennt nicht mehr, er hat nicht mehr das Bedürfnis, sie auszuschalten. Sie ist angenehm warm, wird später noch heiß werden, aber jetzt gerade ist sie wohltuend, es ist wohl das erste Jahr seit vielen, dass er nicht der Blasseste in seiner Klasse sein wird, wenn sie alle nach den Ferien zurückkehren.
Der Sommer ist für ihn zu etwas Schönem geworden. Die endlosen Sommerferien, die er mit dem Aufschneiden seiner Arme verbracht hat, die ätzenden langen, warmen letzten Schultage, an denen er morgens und abends geduscht hat, das schöne Wetter und die gute Laune, die er mit verschlossenem Fenster und einem schwarzen Laken ausgeblendet hat.
Der Winter ist für ihn zu etwas Schönem geworden. Die Weihnachtszeit, die Zeit der Liebe, die sonst Höllenqualen glich, ihn seine Einsamkeit nur noch mehr spüren ließ, bringt ihn nun zum Lächeln, denn er hat in Jenos Familie Schutz gefunden, die Liebe, die es in der Zeit besonders zu haben gilt. Die dunklen Monate, in denen es ihm unglaublich schwer fiel, das Bett zu verlassen und das Blut von seinen Armen zu waschen, jeden Morgen, den kalten Schulweg, das Frieren, den ganzen Tag. Wärmer ist es nicht – aber Jaemin hat jetzt jemanden, der ihm Handschuhe leiht, der ihn mit einer festen Umarmung aufwärmt, der dafür sorgt, dass er Tee trinkt. Er hat jetzt jemanden, der ihn jeden Morgen dazu motiviert, aufzustehen, egal, wie schwer es ihm fallen mag, er schafft es für Jeno.
Der Herbst ist für ihn zu etwas Schönem geworden, mit seinem nassen Wetter und dem Fallen der Blätter, die kahlen Bäume im Regen, die ihn an ihn selbst erinnert haben. Hoffnungslos, hässlich, unbrauchbar – und trotzdem bleiben sie stehen, blühen im Frühling wieder auf.
Der Frühling ist für ihn zu etwas Schönem geworden, das Zeichen für Neuanfang und Leben, wo er es früher so verabscheut hat, wie alles auf einmal zum Leben erweckt ist. Mit dem neuen Grün und dem Zwitschern der Vögel, dem Bunt der blühenden Blumen – wozu denn das Ganze? Es ist doch alles nur temporär. Und jetzt denkt er bei Frühling an Jenos Geburtstag, an das Picknick auf der blühenden Wiese, das sie abbrechen mussten, weil Jeno gegen Pollen allergisch ist. Das Summen der Bienen ist für ihn nicht länger störend, sondern angenehm, er kann die ersten Sonnenstrahlen genießen, betrachtet sprießende Blumen, statt sie ungeachtet – oder auch absichtlich – zu zertrampeln.
Ob das alles auch für das Leben gilt, das weiß Jaemin nicht. Aber er ist bereit, es herauszufinden, mit Jeno an seiner Seite, mit der neu geschöpften Hoffnung, dem Lebenswillen, der langsam wieder in ihm erwacht.
Er weiß, dass er all das Jeno zu verdanken hat. Und dass er ohne ihn auch nicht fortfahren kann. Aber er weiß auch, dass in ihm selbst ausreichend Kraft steckt, sodass Jenos helfende Hand gereicht hat, um ihn hochzuziehen.
Wann er das Ende erreicht, ist ungewiss. Wann er wieder in der Sonne stehen wird. Aber er glaubt fest daran, dass er es schaffen kann.
22.02.2021
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can't you see me? ❈ nomin ✓
Fanfiction𝙣𝙤𝙬 𝙥𝙡𝙖𝙮𝙞𝙣𝙜: can't you see me - txt 03:06 ────────────●─ 3:21 ⇆ㅤㅤ ㅤ◁ㅤㅤ❚❚ㅤㅤ▷ㅤㅤ ㅤ ㅤ↻ 𝙣𝙚𝙭𝙩 𝙛𝙧𝙤𝙢: 𝙙𝙖𝙣𝙘𝙞𝙣𝙜 𝙞𝙣 𝙩𝙝𝙚 𝙧𝙖𝙞𝙣 runaway - eric nam » Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles vereint in dem fast ach...