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Als es klingelt, rechnet Jeno mit vielem. Aber nicht mit einem weinenden Jaemin.

"Bunny? Was ist passiert?"

"Eomma–" Er schluchzt auf, und die Verzweiflung bricht Jeno wohl das Herz.

"Komm her. Alles gut. Schon okay." Jeno umarmt ihn vorsichtig und streicht über seine Haare, so sanft, dass Jaemin noch mehr weint.

Vorsichtig, aber hastig zieht Jeno ihn mit sich rückwärts ins Haus, um die Tür zu schließen, schließlich ist es kalt und Jaemin trägt dazu noch keine Jacke. Das war es aber auch mit Bewegung, so fest, wie Jaemin sich an ihn klammert.

"Wie bist du hierhergekommen?", fragt Jeno leise.

"Gerannt." Dementsprechend zittern seine Beine, als wären sie in der Antarktis. Und als sie nachgeben, hebt Jeno ihn hoch und trägt ihn ins Wohnzimmer. Dort setzt er ihn auf dem Sofa ab, zieht seine Schuhe aus, damit er sich hinlegen kann, und platziert einen Kuss auf seiner Stirn.

"Nicht gehen", schluchzt Jaemin, sobald er sich auch nur aufgerichtet hat. Kurz sieht Jeno ihn nur an, als wolle er widersprechen, aber er kann es ja doch nicht. Stattdessen klettert er hinter ihn und schließt ihn in seine Arme. Es dauert nicht lange, bis Jaemin sich umdreht und sich in seinem Hoodie versteckt. Da er noch immer zittert, zieht Jeno ihn noch fester an sich, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob es an der Kälte liegt.

"Was hast du da?", fragt Jeno leise, hat schon als Jaemin angekommen ist die Unebenheit unter seinem Hoodie bemerkt. Der Jüngere nimmt ausreichend Abstand, um unter den Stoff zu greifen – und Nono hervorzuziehen, den er an sich drückt, als könnte er verloren gehen.

"Kommt her, ihr zwei", lächelt Jeno, und mit einem unterdrückten Schluchzen kuschelt Jaemin sich wieder an ihn.

Lange bewegen sie sich nicht, nur Jenos Hand wandert über Jaemins Rücken. Nach einer Weile dreht Jeno sich aber auf den Rücken, mit einem gemurmelten "Mein Arm schläft ein", und zieht Jaemin halb mit, sodass dieser fast auf ihm liegt.

"Tut mir leid", erwidert er tränenerstickt.

"Schon gut, Baby." Jeno platziert einen Kuss auf seiner Stirn, und da Jaemin sich sowieso schon so an ihn kuschelt, um nicht vom Sofa zu rutschen, zieht er ihn vollständig auf sich, die Arme fest um ihn geschlungen.

Als Jaemin sich mehr oder minder beruhigt hat, setzt er sich auf und wischt sich über die Augen.

"Willst du mir erzählen, was passiert ist?", fragt Jeno, sich ebenfalls aufrichtend, und trocknet seine Wangen.

"Sie hatte einen Autounfall", flüstert Jaemin. "Mein Vater kam nach Hause und hat mir das gesagt. Und dann bin ich weg."

"Hast du Angst vor ihm?"

Nur ein Nicken. Jeno schließt ihn in seine Arme.

"Wenn sie nicht da ist, kann er machen, was er will."

"Weißt du, wie es ihr geht?"

Jaemin schüttelt den Kopf. "Sie könnte tot sein, und ich..."

"Sollen wir sie besuchen gehen?"

Jaemin schluckt trocken. Dann nickt er.

"Jetzt?"

"Gleich."

All zu lange kann Jaemin es nicht mehr aushalten, er ist unruhig und Jeno merkt es, stupst ihn leicht an, sodass er aufsteht und nach seiner Hand greift. Jeno schiebt ihre Finger ineinander und so gehen sie zur Tür, verlassen das Haus ebenfalls mit verschränkten Fingern.

Sie schweigen eigentlich die ganze Zeit, und an der Rezeption ist es nur Jeno, der spricht.

Er kann Jaemin zittern spüren, als sie durch die seltsam leeren Krankenhausgänge laufen. Der Mann an der Rezeption konnte ihnen nicht mehr sagen, als in welchem Zimmer Jaemins Mutter sich befindet. Also wachsen seine Ängste mit jedem Schritt, bis sich vor der Zimmertür seine Fingernägel in Jenos Arm und Hand bohren.

"Bunny." Jeno löst seinen Griff vorsichtig und nimmt Jaemins Hände in seine, streicht über seine Handrücken. "Es ist alles okay. Sie lebt noch."

"Noch", haucht Jaemin. Dann drückt er die Klinke herunter, bevor er es nicht mehr schafft.

Sie schläft. Begleitet von einem gleichmäßigen Summen der Lampenreihe über ihren Bett. Jaemin schwankt, sinkt gegen Jeno. Der Ältere fängt ihn auf, stützt ihn, damit er nicht umkippen kann. Jaemins Fingernägel kehren zurück, schwächer allerdings, er ist zu abgelenkt von seiner Mutter.

"Willst du nachfragen, was sie hat?", fragt Jeno, reißt Jaemin aus seinen Gedanken.

"Wen, Eomma?"

"Die Ärzte. Sie können dir auch etwas über ihren Zustand sagen."

Jaemin zögert, sieht zu seiner Mutter, umklammert Jenos Hand.

"Nein. Ich will hier weg."

"Okay. Möchtest du wieder herkommen und es wissen?"

"Weiß ich nicht. Ich will zurück zu dir."

"Was hältst du von einer Nachricht? Dass du hier warst, mein ich."

"Eine Nachricht...?"

"Du kannst einen Zettel schreiben. Oder jemandem hier sagen, dass sie das deiner Mutter sagen sollen."

Wieder denkt Jaemin nach, spielt diesmal mit Jenos Fingern. "Wa...rum...?"

Jeno zuckt mit den Schultern. "Um sie es wissen zu lassen. Vielleicht freut sie sich. Vielleicht erleichtert es dich. Das musst du wissen."

Zögerlich löst Jaemin seine Finger von Jenos. "Hast du einen Zettel?"

"Nein. Und einen Stift auch nicht. Aber wir sind eben an diesem Auskunft-Arzt-Pfleger-Ding vorbeigekommen, da kann ich bestimmt beides kriegen."

Sofort ist Jaemins Klammergriff zurück. "Du lässt mich nicht allein!"

Jeno lächelt sanft. "Hatte ich nicht vor. Na komm." Er zieht vorsichtig an Jaemins Hand, und der Jüngere setzt sich vor ihm in Bewegung, bleibt aber auf dem Gang hinter ihm. Auch vor der Ärztin versteckt er sich halb hinter Jeno, traut sich kaum, sie anzusehen. Jeno ist da, redet er sich ein, Jeno ist bei mir.

Seine Unruhe bleibt.

"Bunny." Er zuckt zusammen, sieht Jeno erschrocken an. "Du kannst losschreiben." Er deutet auf den Zettel vor Jaemin, und dieser nimmt den danebenliegenden Stift, spielt kurz mit ihm, bevor er loskritzelt.

ich hoffe dir geht's gut
hab nur kurz vorbeigeschaut, komm vielleicht wieder
ich bin bei Jeno
- Jaemin

"Reicht das?", fragt er leise.

"Findest du, dass es reicht?"

"Ich weiß nicht... Vielleicht will sie noch was wissen."

Jeno lächelt liebevoll. "Es reicht, bunny. Wenn sie noch etwas wissen will, kann sie fragen, wenn du wiederkommst. Du willst ihr einfach sagen, dass du hier warst."

Jaemin atmet tief ein. "Okay." Er legt den Stift hin, nimmt den Zettel und folgt Jeno zurück zum Zimmer seiner Mutter.

Dort angekommen legt er den Zettel auf den Tisch auf der am Fenster liegenden Bettseite. Als er wieder zurückgeht, stoppt er am Fußende, mustert das Gesicht seiner Mutter, als erkenne er sie erst jetzt richtig. Nach einem Moment setzt er sich wieder in Bewegung und schaltet das Licht direkt über ihr aus, sodass nur noch das etwas schwächere an der gegenüberliegenden Wand scheint.

"Hab dich lieb", flüstert er, leise genug, dass seine Mutter es auch in wach überhören könnte. "Tut mir leid." Dann dreht er sich hastig weg, nimmt Jenos bereits wartende Hand und sie verlassen gemeinsam das Zimmer.

08.10.2020

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