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Ihr Telefonat läuft bis in die Nacht hinein, und endet nur, weil Jaemin einschläft.

Jeno hört ihm noch eine Weile zu, falls er schlecht schlafen sollte, doch es bleibt ruhig, also legt er auf und geht ebenfalls schlafen, wobei es bei ihm weitaus länger dauert als bei Jaemin, er macht sich zu viele Gedanken um ihn. Aber wie könnte er auch nicht?

Am nächsten Vormittag schreiben sie nicht viel, ab Mittag wird es still, Jaemin antwortet nicht mehr.

Eine Stunde, zwei Stunden, den ganzen Nachmittag, den ganzen Tag.

Ein Tag vergeht, zwei Tage vergehen. Nichts. Ein dritter folgt, in Jeno bleibt noch die Hoffnung, dass er sich meldet, irgendwie. Ein vierter Tag, an dem er nicht schlafen kann.

Am fünften hat er noch vor dem Mittagessen das Haus verlassen und ist auf dem Weg zu Jaemin. Der Jüngere hat seit zwei Tagen sein Zimmer nicht mehr verlassen, seit gestern liegt er in seinem Bett und kann gerade so noch lesen, wenn er nicht schläft. Es ist der vierte Tag ohne Essen, den Gefallen will er seiner Mutter nicht tun, und er vermisst es auch nicht, selbst sein Körper bleibt davon unbetroffen. Das Weinen hat er aufgegeben, Jenos Fehlen löst mittlerweile nicht mehr als einen dumpfen Schmerz in ihm aus.

Wie jedes Mal, wenn es klingelt, leuchtet ein kleiner Hoffnungsschimmer in ihm auf, dass es Jeno ist, und doch wird er mit jeder Enttäuschung schwächer. So kann er sich diesmal nur mühsam aus seinem Bett bewegen und die Tür öffnen, zur Treppe gehen und mit geschlossenen Augen lauschen.

"Er ist die letzten Tage so müde gewesen, ich glaube nicht, dass er in der Verfassung ist, Besuch zu haben."

"Das ist mir egal." Jaemin reißt seine Augen auf, als er Jenos Stimme identifiziert. "Ich habe seit fünf Tagen nichts von ihm gehört, ich möchte nur nach ihm sehen. Sie können mich sofort wieder nach Hause schicken, wenn ich weiß, dass es ihm gut geht."

Auf einmal hat Jaemin genug Kraft, aufzustehen, die Treppe hinunterzugehen, und er erblickt tatsächlich seinen Freund hinter seiner Mutter.

Schon ist er losgelaufen und findet sich gleich darauf in Jenos Armen wieder, einer schützenden Umarmung, liebevoll und sanft.

"Hallo, bunny", hört er ihn flüstern, ist nicht in der Lage, zu antworten.

Seine Mutter seufzt. "Zehn Minuten." Dann geht sie weg.

"Sie haben dir dein Handy weggenommen, oder?" Jaemin nickt schwach.

Kurz ist Jeno still, dann schiebt er ihn von sich und holt sein eigenes Handy heraus. "Dein Geburtstag. Ich werde dich nachher von Jieuns Handy anschreiben. Du hast nichts gegessen, oder? Du bist noch dünner geworden. Bitte tu das, dein Körper dankt es dir. Lassen sie dich nicht raus?" Jaemin schüttelt den Kopf. "Ich komme morgen wieder. Und übermorgen. Und überübermorgen. Bis sie mich reinlassen oder dich raus. Soll ich Appa mitnehmen?"

"Noch nicht", flüstert Jaemin.

"Okay. Möchtest du, dass ich meinen Hoodie hierlasse?" Er nickt und sofort zieht Jeno sich den Stoff über den Kopf, legt ihn in Jaemins zitternde Hände. "Ich hol dich da raus, mein Engel", flüstert er, "ich verspreche es dir. Ich liebe dich."

"Ich dich auch."

Jaemin fängt an zu weinen, als Jeno ihn küsst.

"Bald sind die Sommerferien vorbei, bunny. Spätestens dann müssen sie dich rauslassen. Das hältst du aus, das weiß ich." Er drückt ihm noch einen Kuss auf die Lippen. "Soll ich dir morgen etwas mitnehmen?"

"Essen", flüstert Jaemin.

"Was möchtest du? Ich besorg's dir."

Jaemin muss nachdenken, aber es fällt ihm etwas ein und sofort speichert Jeno es ab, nickt. "Noch etwas?"

"Es gibt so kleine Süßigkeiten", wispert Jaemin, "Pfirsiche sollen das sein. Die sind vegetarisch."

"Alles klar. Find ich. Hast du noch ausreichend Bücher?" Jaemin nickt. Jeno sieht seine Mutter hinter ihm im Flur auftauchen und nimmt Jaemins Kopf in seine Hände, sieht ihm fest in die Augen.

"Ich komme morgen wieder. Versteck das, damit sie es dir nicht auch wegnehmen können. Ich melde mich bei dir. Sobald ich kann. Vergiss niemals, dass ich dich liebe, und dass es mir am wichtigsten ist, dass du lebst und in Ordnung bist. Ich werde dir helfen. Das verspreche ich dir."

Da Jaemins Mutter sich räuspert, platziert Jeno nur noch einen Kuss auf Jaemins Stirn, schenkt ihm ein Lächeln und verschwindet. Jetzt könnte Jaemin wieder weinen.

"Was ist das?" Sie macht einen Schritt nach vorne, greift nach dem Stoff in Jaemins Armen, doch er schlägt ihre Hand weg, voller Angst, sein letztes bisschen Halt auch noch zu verlieren.

"Fass mich nicht an", faucht er, presst den Hoodie an sich und drückt sich an ihr vorbei, ist schneller die Treppe hochgelaufen als sie reagieren kann. Das Zufliegen seiner Zimmertür hallt durchs Haus, er schließt hinter sich ab und sinkt auf den Fußboden.

Bis Jeno ihm schreibt, hat er sich nicht vom Fleck bewegt, lediglich seinen Hoodie gegen Jenos ausgetauscht und seine Nase darin vergraben. Nun erzählt Jaemin von seinen letzten vier Tagen, die Folter glichen, und hätte er nicht Angst, Jeno dann nicht wiederzusehen, wäre dieser auf der Stelle noch einmal vorbeigekommen. Aber so kocht er im Zimmer seiner Schwester vor sich hin, gemeinsam mit ihr, und sie sind knapp davor, einen Plan zu schmieden, um Jaemin aus seiner Elterndiktatur, wie Jieun es beschreibt, zu befreien.

Auch ihre Eltern erfahren davon, und sie zerbrechen sich den Kopf darüber, ohne zu einer Lösung zu kommen – schließlich hat Jaemin ausdrücklich gesagt, dass Jenos Vater nicht einschreiten soll.

Noch nicht.

Jeno hofft, dass Jaemin es sich bald anders überlegt. Er kann es verstehen, dass er es nicht will, aber er sieht trotzdem, wie sehr Jaemin darunter leidet, besonders jetzt, wo er den Vergleich zu einem beinahe unbelasteten Jaemin hat.

Und den wünscht er sich zurück. Nicht für sich selbst, nicht weil er den anderen nicht leiden kann, sondern weil es Jaemin damit so gut ging. Sein schlafloses Gesicht lässt ihn nicht los, sein Leid, seine glanzlosen Augen, sein unechtes Lächeln, das alles gibt Jeno noch mehr das Bedürfnis, ihn morgen einfach bei der Hand zu nehmen, wegzurennen und nie wieder zurückzukehren.

20.07.2020

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