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Direkt am nächsten Tag begegnen sie sich wieder, unbeabsichtigt, selbst von Jeno. Er sieht Jaemin nur durch den Gang eilen, und muss lediglich einen Schritt zur Seite machen, sodass der Jüngere fast in ihn hineinläuft.

"Entschuldigung", murmelt Jaemin nur, will sich an ihm vorbeidrücken, doch Jeno hält seinen Arm fest und aus Reflex sieht Jaemin hoch, spürt Jenos Leben vollständiger werden.

"Hi", lächelt Jeno. Jaemin sieht wieder zu Boden.

"Hallo", erwidert er leise.

"Wie geht's dir? Hast du noch Schmerzen? Musstest du zum Arzt?" Ein simples Kopfschütteln. Kurz wartet Jeno, ob noch mehr folgt, lacht leise, als Jaemin schweigt.

"Dir muss ich also jede Frage einzeln stellen, notiert. Hast du kurz Zeit?"

Jaemin zögert. "Muss zu Musik", sagt er leise.

"Ich bring dich." Jetzt schüttelt er heftig den Kopf. Bloß nicht. Das bedeutet Aufmerksamkeit, und die hat er gestern schon zu Genüge erhalten.

"Dann musst du eben noch eine Weile hier stehen." Unsicher sieht Jaemin zu ihm auf, nur kurz, und trotzdem lernt er mit diesem einen Blick Jenos Schwester kennen. Er muss die Augen schließen. Er hasst es so sehr, dass es ihn manchmal, so wie jetzt, fast zum Weinen bringt. Meistens nicht nur fast, aber vor Jeno muss er sich zusammenreißen.

"Du willst wirklich nicht mit mir reden, oder?", fragt Jeno leise.

"Das ist es nicht", platzt es aus Jaemin heraus, "du bist doch der Einzige, der überhaupt mit mir redet." Er schluckt trocken.

"Dann lass mich doch weiter mit dir reden."

"Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie das geht", flüstert Jaemin, wird beinahe übertönt von Gelächter aus einem der Klassenräume.

"Ich bring's dir bei."

Vor lauter Überraschung rutscht Jaemin sein Buch aus der Hand.

Es knallt auf den Boden, das Geräusch hallt durch den gesamten Gang und weiter, aber Jaemin hört es fast gar nicht, reagiert nicht. Jeno mustert ihn kurz, so eingefroren, bevor er selbst es aufhebt und Jaemin hinhält. Keine Reaktion.

"Das kannst du nicht machen", haucht er. Jeno klemmt sich das Buch unter den Arm und beobachtet, wie Jaemin immer kleiner wird, sich zurückzieht.

"Warum denn nicht?"

"Weil, weil... Niemand macht das. Du erst recht nicht."

"Wie's aussieht schon."

Jaemin dreht sich auf dem Absatz um und läuft davon, ohne Ziel, einfach nur weg von Jeno. Der sieht ihm hinterher, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, kehrt in sein Klassenzimmer zurück, das Buch fest an sich gedrückt. Seine Gedanken kreisen um Jaemin. Was ist es nur, das ihn dazu bringt, sich so abzuschotten? Gegen jegliche sozialen Kontakte vehement zu wehren?

Nur wegen des Buches sehen sie sich wieder. Für Jaemin ist es immerhin überlebenswichtig, und dafür nimmt er sogar die Blamage in Kauf, die es ihm beschert, in Jenos Klassenraum aufzutauchen. Aber der holt sofort das Buch aus seiner Tasche, steht auf und schiebt ihn vorsichtig mit sich aus der Tür, da Jaemin selbst nur wie gelähmt dasteht.

"Es überrascht mich, dass du nicht gestern noch wieder zurückgekommen bist."

"Hatte nur noch Musik", murmelt Jaemin. Es ist ihm fast unangenehm, was gestern passiert ist, hauptsächlich aber hat er Angst, was Jeno jetzt von ihm denkt.

Er drückt ihm nur wortlos das Buch in die Hand.

"Was?", seufzt Jeno, als Jaemin es nur anstarrt, "deswegen bist du doch hier, oder nicht? Du willst nicht mit mir reden, also zwinge ich dich auch nicht dazu."

"Aber–" Jaemin spürt Jenos Resignation, als er ihm in die Augen sieht. "Du wolltest mir das doch beibringen..."

Jeno hält inne. "Du willst das doch?" Ein zögerliches Nicken. Er lächelt und rückt seine Brille zurecht. "Wo hast du jetzt Unterricht?"

"Bio."

"Ich hol dich ab. Lektion eins: Smalltalk." Es klingelt. "Wir sehen uns nachher. Du wartest!" Lächelnd hält Jeno ihm den Zeigefinger wie drohend vor die Nase, ehe er sich umdreht und in seine Klasse zurückkehrt. Nach einem Moment des Verarbeitens ist Jaemin in der Lage, sich auf den Weg zu den Bioräumen zu machen, aber seine Gedanken drehen sich immer noch um Jeno, dem ersten Menschen, der wieder nett zu ihm ist, und der Frage, was zum Teufel ihn dazu bringt.

Das beschäftigt ihn auch beinahe die ganze Stunde, doch im Vorbeigehen berührt er die Tafel und seufzt innerlich, als er die Massen an Kreideschichten erfährt, bis er die von der heutigen Unterrichtsstunde findet und abgesondert speichert. Wie er das schafft, weiß nicht einmal er selbst, doch es hat ihm schon einige Male geholfen.

Auf dem Flur begegnet Jaemin erst einmal einer Menge Menschen, doch als sie weg sind, sieht er Jeno am Ende des anliegenden Flures mit jemandem reden, augenscheinlich etwas aufgebracht, seine Gestik erinnert ihn an den Ausraster seines Mathelehrers in der letzten Stunde, als niemand seine Hausaufgaben vorliegen hatte. Also verkriecht er sich weiter nach hinten, setzt sich mit seinem Buch auf den Boden und wartet darauf, dass Jeno zu ihm kommt.

Er ist aber so vertieft, dass er ihn erst bemerkt, als er vor ihm in die Hocke geht und das Buch aus seinen Fingern nimmt. Erschrocken sieht Jaemin hoch, entspannt sich aber deutlich, als er Jeno erkennt.

"Hi." Er lächelt. "Willst du hierbleiben oder sollen wir irgendwo anders hin?"

"Hierbleiben."

Also nimmt Jeno seinen Rucksack ab und setzt sich zu ihm.

"Weißt du, was Smalltalk heißt?" Er nimmt das Lesezeichen von Jaemins Bein und legt es zwischen die Seiten, bevor er ihm das Buch wiedergibt.

"Ich denke..."

"Okay. Also. Wie geht's dir?"

"Ganz okay."

Jenos leises Auflachen verunsichert Jaemin. "Der wichtigste Punkt ist es, das Gespräch aufrecht zu erhalten. Wenn du lediglich antwortest, funktioniert das nicht. Also fragst du zurück."

"Was... Was ist dein Lieblingsbuch?"

Jeno lächelt. "Die Herr der Ringe-Trilogie. Aber das meinte ich überhaupt nicht. Beim Smalltalk redest du zum Beispiel über das Wetter. Dann kannst du zum Beispiel sagen, dass du ja eigentlich am Wochenende draußen lesen wolltest, aber es soll regnen, also geht das nicht. Und ich frage dich, was du liest. Du erzählst es mir. Dann ist ein passender Zeitpunkt, mich nach meinem Lieblingsbuch zu fragen."

"Aber das Wetter interessiert mich doch gar nicht."

Jeno seufzt lächelnd. "Manchmal muss man auch über Dinge reden, die einen nicht interessieren."

"Dann will ich aber keinen Smalltalk machen."

Jeno kann einfach nicht anders, als es unglaublich niedlich zu finden.

27.06.2020

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