8

465 46 17
                                    

Bis sie bei Jeno sind, hat Jaemin kaum aufgehört zu reden, und Jeno hatte noch nie so viel Gefallen daran, jemandem dabei zuzuhören, einfach nur, weil es Jaemin ist. Er redet und redet und verstummt mitten im Satz, als sie in Jenos Zimmer stehen.

"Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du mir so nah bist", sagt er. Sich leise entschuldigend nimmt Jeno Abstand, er selbst war sich nicht bewusst darüber, ihm so nah zu sein.

"Ich will mich aber nicht konzentrieren können." Also macht Jeno wieder einen Schritt nach vorn, etwas unsicher. "Näher. Näher."

"So nah war ich dir eben aber nicht", flüstert er. Er kann sehen, wie Jaemins Pupillen auf das Licht reagieren.

"Trotzdem sollst du näher."

"Wenn ich dich küssen soll, sag mir das", schmunzelt Jeno, weniger ernst gemeint.

"Wenn ich wüsste, wie das funktioniert, täte ich das bestimmt."

Nachdenklich sieht Jeno ihn an. Aber Jaemin meint es ernst.

"Das geht automatisch."

"Nichts geht automatisch. Nur körperliche Funktionen wie das Atmen, und selbst das wird unterbewusst reguliert."

"Wenn ich dir sage, ich bring's dir bei, bist du dann zufrieden?"

"Äußerst."

Jeno lacht leise auf. "Ich weiß doch selbst nicht, wie das geht."

"Hast du noch nie jemanden geküsst?"

"Nicht so, wie ich dich küssen will."

Das zweite Mal an diesen Tag wird Jaemin rot. "Warum machst du das mit mir?", murmelt er, wie zuvor seine Wangen hinter seinen Händen versteckend. Jeno nimmt sie vorsichtig wieder herunter.

"Das könnte ich dich fragen." Er versteht es nämlich nicht, auch wenn das Ausrufezeichen größer nicht sein könnte.

"Vielleicht weiß ich die Antwort, wenn du mich küsst."

Ein Schmunzeln steht in Jenos Mundwinkel, Jaemin kann es schon nicht mehr sehen, so nah sind sie sich. Jenos Arme legen sich um seine Taille, ziehen ihn dicht an sich, und diesmal dreht Jaemins Kopf sich vor lauter Nähe.

"Das Gute ist, dass es nicht richtig sein muss, um schön zu sein", sagt Jeno leise, Licht spiegelt sich in seiner Brille, und er legt seine Lippen sanft auf Jaemins. Der krallt sich in Jenos Shirt, beschließt, einfach dessen Bewegungen zu spiegeln, stellt fest, dass er seine Augen geschlossen hat, und auf einmal ist alles richtig und auf einmal ist alles perfekt und auf einmal fühlt er sich schwerelos. Ein kleines Feuerwerk geht in ihm los, die Wärme nimmt Überhand, und dann weiß er aus dem Nichts so viel, dass er sich im nächsten Moment vor Jenos Füßen auf dem Boden wiederfindet. Die Vergangenheit breitet sich aus, er durchlebt Jenos Leben beinahe im Schnelldurchlauf. Eine Lücke folgt, und dann taucht ein Geschehnis der Zukunft auf, das nicht schöner hätte sein können. In einem Jahr sitzen die beiden auf Jaemins Bett und lesen und küssen sich manchmal und er kann einen Strauß auf seinem Schreibtisch erkennen, den Jeno ihm mitgebracht hat, mit einer weißen Rose und vielen weißen Blumen und es ist das Geschenk zu ihrem ersten Jubiläum, da Jaemin schon lange Blumen in seinem Zimmer stehen haben will und Weiß seine Lieblingsfarbe ist.

"Jaemin?" Er sieht Jeno nur verschwommen vor sich, so überwältigend ist das alles.

"Heft", mehr bringt er nicht hervor. Jeno entfernt sich aus seinem Blickfeld und kehrt mit dem Heft zurück, gibt es ihm, setzt sich vor ihn, während er wie wild hineinkritzelt und mit jedem Satz merkt, dass er wieder in die Gegenwart zurückkehrt.

Nur die Zukunft schreibt er nicht auf.

"Ich hab deine Zukunft gesehen", sagt er, als er fertig ist, "unsere. In einem Jahr. Du hast mir Blumen geschenkt."

"Weil du seit einem Jahr mein Freund bist?", lächelt Jeno.

"Weil ich seit einem Jahr dein Freund bin. Bin ich das jetzt?"

"Wenn du das willst, ich sag nicht Nein."

Jaemin lächelt. "Ja."

Jeno erwidert es.

Und da bemerkt Jaemin es.

"Es funktioniert nicht mehr", wispert er. "Wenn ich dich ansehe, weiß ich nichts mehr."

"Was? Oh. Ist das nur bei mir so?"

"Weiß ich nicht. Nein, doch, vorhin ging das schon. Das heißt, es wird weniger." Er fängt an zu strahlen. "Es wird weniger."

"Das ist großartig." Jeno streicht vorsichtig über seine Hand, doch im nächsten Moment fliegt Jaemin schon gegen ihn und drückt ihn so fest er kann.

"Danke", sagt er leise. Jeno erwidert die Umarmung etwas sanfter, zieht ihn dichter zu sich.

"Ich hab doch nichts gemacht."

"Doch. Bei meiner Mutter war das auch so, dass mein Vater es besser gemacht hat." Jaemin schnappt nach Luft, schiebt Jeno von sich weg. "Deshalb hab ich deine Zukunft nicht sehen können! Kann ich immer noch nicht! Oh Mann, bald krieg ich noch Kopfschmerzen." Auch wenn er sich auf den Älteren konzentriert, das Schwirren von Erinnerungen lässt seine Sicht verschwimmen.

"Willst du aufschreiben?"

"Ich weiß immer wieder das Gleiche. Ich muss mich... gewöhnen."

"Nur ein bisschen. Damit du nicht umfällst."

Jaemin tastet nach dem Heft, Jeno gibt es ihm und ein paar Sätze später ist alles wieder ein wenig klarer.

"Ich muss das aber können, ohne davon umzufallen. Üben wir?"

Jeno schmunzelt. "Nichts lieber als das. Aber nicht auf dem Fußboden, okay?"

"Okay. Guckst du mich auch ganz viel an?"

"Na sicher."

Jaemin strahlt so sehr, dass Jeno gar nicht anders kann.

"Du bist hübsch", sagt er leise, als sie schon auf seinem Bett sitzen, und der Jüngere wird rot.

"Du musst aufhören, das zu machen, dann ist mir immer warm."

Jeno lacht leise. "Tut mir leid. Du bist aber niedlich, wenn du rot bist."

"Hör auf." Jaemin schmollt ihn an und da kann Jeno nicht anders, als seine Hand zu nehmen und einen Kuss auf seinem Handrücken zu platzieren, da er sich nicht sicher ist, ob so ein unvorbereiteter Kuss nicht zu extrem ist. Aber Jaemin ist anderer Meinung, nimmt kurzerhand Jenos Kopf in seine Hände und küsst ihn.

"Ich hab dich so gern", flüstert Jaemin, "das glaubst du mir gar nicht."

"Und ob ich dir das glaube."

Nie hätte Jaemin gedacht, jemals wieder freiwillig jemanden zu berühren, besser noch, zu umarmen und zu küssen. Aber hier sind sie nun, und dieser Jemand ist Jeno, und das ist großartig.

30.06.2020

can't you see me? ❈ nomin ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt