35

226 20 11
                                    

Jaemin ist überglücklich, als er am Donnerstag seinen Eltern davon erzählt und sie es zulassen, sie scheinen sich sogar ein wenig für ihn zu freuen, und es scheint einen riesigen Wechsel in ihm zu geben. Auf einmal ist er viel ausgelassener, fröhlicher, und es erleichtert Jeno unendlich, ihn so zu sehen, zu hören, wie es ihn erfüllt.

Dementsprechend fröhlich hüpft Jaemin Freitag durch die Schule, lässt sich nicht einmal von den Leben anderer Menschen davon abhalten.

In der ersten Pause sehen die beiden sich noch, Jeno holt Jaemin von seinem Klassenraum ab und bringt ihn zu den Chemieräumen, verbringt seine Pause dort. Jaemin entscheidet sich sogar, noch am gleichen Tag das erste Mal mit Jenos Freunden in Kontakt zu treten. In der Mittagspause, sagt Jeno, sie können zusammen essen. Und Jaemin stimmt zu. Es ist sogar das erste Mal, dass sie sich in der Schule küssen. Schließlich werden Jaemins Augen wieder so groß und Jeno kann ihm einfach niemals wiederstehen.

Es könnte so ein schöner Tag sein.

Die zweite Pause verbringen sie getrennt, aber Jenos mulmiges Gefühl, das ihn schon seit der letzten beschäftigt, verstärkt sich mit der Zeit. So ist er höchst beunruhigt, als Jaemin nicht pünktlich und auch nicht kurz nach Beginn der Mittagspause die Mensa betritt. Keine Nachricht, nichts. Fünf Minuten vergehen, zehn Minuten vergehen. Knapp zur Hälfte der Pause haben sie fertig gegessen, und sofort verschwindet Jeno und macht sich auf die Suche nach Jaemin.

Wer ihn letztendlich findet, ist sein bester Freund Renjun.

Er ruft ihn an, Jeno nimmt sofort ab, ohne überhaupt auf den Namen zu sehen.

"Ich hab ihn gefunden", sagt Renjun sofort. "Du musst herkommen. Hinter der Sporthalle." Und schon hat er wieder aufgelegt.

Es fühlt sich ewig an, bis Jeno endlich dort ist, nicht nur für ihn. Auch für den am Boden kauernden Jaemin, der am ganzen Körper Schmerzen hat. Er kann nicht einmal aufsehen, kann sich nicht bewegen, schon vom Weinen wird der Schmerz schlimmer. Er kann nur gegen Jeno sinken, als der neben ihm kniet. Sein Schluchzen bricht seinem Freund das Herz.

"Was ist passiert?", fragt Jeno, mehr in Richtung Renjun.

Der zuckt mit den Schultern. "Er konnte noch nichts sagen." Kann er auch noch immer nicht.

"Kannst du meine Schwester anrufen? Sie soll Schmerztabletten aus dem Krankenzimmer besorgen." Renjun seufzt, nickt aber, nimmt sein Handy heraus und geht ein paar Schritte weiter, lässt die beiden allein.

"Wer war das, bunny? Wer hat dir das angetan?" In Jeno brodelt es, aber er ist ruhig, spricht sanft. Jaemin kann nicht antworten, krallt sich fester an Jeno. Nicht nur wegen des Schmerzes, nicht nur wegen der Tränen, sein Kopf ist voller fremder Erinnerungen und Zukunften, Gegenwarten, und dem Schlimmsten; dem Tag, ab dem Jaemin sie nie wieder sieht, liegt weit in der Zukunft.

Bis Jenos Schwester um die Ecke gerannt kommt, hat Jaemin sich wenigstens so weit beruhigen können, dass er Jeno loslassen kann.

"Ich fühl mich absolut nicht schlecht, gelogen zu haben", murmelt sie. "Sechshunderter oder Achthunderter?" Sie hockt sich vor Jaemin, hält ihm beide hin, und er nimmt ihr die stärkere Ibuprofen aus der Hand. Jeno hält ihm seine Wasserflasche hin und als Jaemin die Tablette geschluckt hat, schließt Jeno ihn wieder in seine Arme.

Stille. Renjun und Jieun sehen nur bedrückt zu den beiden.

"Heft", haucht Jaemin und sofort fällt Jenos Blick auf seine quer über die Fläche verteilten Schulmaterialien. Das kleine blaue Heft fehlt.

"Renjun, gibst du mir seinen Rucksack?" Verwirrt, aber ohne nachzufragen, folgt Renjun Jenos Worten, und da nur ein Fach noch verschlossen ist, findet Jeno das Heft schnell und angelt nur noch einen Stift aus seiner eigenen Tasche, bevor er Jaemin vorsichtig antippt.

Während der Jüngere zur Verwirrung der beiden Ahnungslosen sofort drauflosschreibt, streicht Jeno durch seine Haare, wischt ab und an über seine Wangen, doch es tropfen noch immer Tränen auf das Papier. Besonders, als Jaemin feststellt, dass er kaum etwas loswird.

"Wie bist du an so starke Tabletten gekommen?", fragt Jeno, hauptsächlich, um von Jaemin abzulenken.

"Ein bisschen Unterleibsschmerzen vor der Sekretärin gefaked und schon wollte sie mich noch mit Wärmepflastern und Tee versorgen."

"Können die echt so schlimm sein?", platzt es aus Renjun heraus.

Jieun wirft ihm einen Blick zu. "Schmerztabletten helfen wenigstens. Aber wenn du starke Krämpfe hast, gnade dir Gott."

"Da kann ich wohl dankbar sein, männliche Gene zu haben."

"Und ob du das kannst." Sie grinst, und für einen Moment sieht sie genau so aus wie ihr Zwillingsbruder. Sofort wird sie aber wieder ernst und wendet sich Jaemin zu. "Wenn du fertig bist mit Schreiben, muss ich wissen, wem ich die Fresse polieren muss." Jaemin hält inne, sieht zu ihr auf, schluckt.

"Du machst das nicht nochmal", fährt Jeno dazwischen, "sonst fliegst du wirklich noch von der Schule."

Jieun schmollt. "Er hatte das verdient! Und wer auch immer das diesmal gemacht hat, hat das ebenso verdient!"

"Du kannst nicht einfach jemandem die Fresse einschlagen, Ji!"

"Kann ich wohl!"

"Dann sag mir wenigstens Bescheid, damit ich dir helfen kann."

Ein Grinsen bildet sich auf Jieuns Lippen. "So hab ich dich erzogen."

"Ich bin älter als du."

"Die paar Minuten!"

"Eine ganze Stunde hast du noch gebraucht."

"Könnt ihr euch vielleicht mal wieder auf das Wichtige hier konzentrieren? Jaemin sieht nämlich aus, als würde er sich gleich entweder die Seele aus dem Leib kotzen oder aber in Ohnmacht fallen."

"Wer bist du eigentlich?", fragt Jaemin schwach.

"Renjun."

Und dann kippt der Jüngste gegen die Wand hinter sich.

21.07.2020

can't you see me? ❈ nomin ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt