47

238 17 9
                                    

tw: selfharm

Lange sitzt Jeno einfach nur da, in Fassungslosigkeit, beinahe Entsetzen.

"Das meint sie nicht ernst."

"Doch." Jaemin könnte stehenden Fußes wieder in Tränen ausbrechen, doch er schließt seine Augen, vergräbt sein Gesicht an Jenos Schulter. "Sie hat schon eine Schule rausgesucht."

"Diese Frau ist doch irre", entfährt es Jeno, er murmelt eine Entschuldigung hinterher.

Jaemin atmet zittrig ein, sammelt seinen letzten Rest Mut zusammen. "Können... wir zu deinem... deinem Vater?" Jeno versteht ihn kaum, doch ihm fällt ein ganzes Gebirge vom Herzen.

"Natürlich, bunny. Wann immer du möchtest."

"Eigentlich gar nicht", flüstert Jaemin.

Jeno seufzt leise, streicht durch seine Haare. "Ich weiß, bunny. Aber wenn du jetzt genug hast, dann tu auch was."

"Was passiert denn jetzt?", fragt Jaemin leise, ängstlich.

"Das kannst du mit Appa klären, ich weiß das ja auch nicht so genau. Es gibt garantiert auch mehrere Möglichkeiten, und ihr guckt einfach, was am besten ist."

"Du musst aber dabei sein."

"Bunny–"

"Bitte. Jeno, ich schaff das nicht allein."

"Okay okay, schon okay, ich komm mit." Er drückt den wieder zitternden Jaemin an sich, lehnt sich gegen den warmen Heizkörper hinter sich. Jaemin sieht über die Fensterbank hinweg hinaus in den Regen, der ihn zusätzlich zu dem Heulen des Winds irgendwie beruhigt.

"Bei dem Wetter bist du hergekommen...?"

"Ich bitte dich, wenn du mich nicht einmal mehr selbst anrufen kannst, brech ich auch aus einem Gefängnis aus und kämpf mich durch 'nen Schneesturm, wenn ich sonst nicht zu dir kommen kann."

Jaemin schweigt.

"Ich liebe dich", flüstert er. "Danke."

"Ich dich auch, Engel. Und deshalb musst du dich nicht bedanken."

Er antwortet nicht, schlingt seine Arme nur fester um Jenos Schultern und wendet seinen Blick von den über die Scheibe rennenden Regentropfen ab, schließt seine Augen und konzentriert sich ganz auf das Prasseln, das beinahe einem Rauschen gleicht, so heftig ist es, auf Jenos leisen Herzschlag, seine Körperwärme, seine um Jaemins Körper geschlungenen Arme.

"War das heute? Mit deiner Mutter?" Jaemin nickt, nimmt noch Jenos Duft dazu. "Also... hast du dich nicht noch einmal geschnitten?"

Jaemin schüttelt den Kopf. "Wirklich nicht", beteuert er leise.

"Okay. Das ist gut, bunny. Das ist gut..."

"Was ist?", fragt Jaemin, Jeno klingt nicht ganz bei sich selbst. Der Ältere holt tief Luft, stößt sie geräuschvoll wieder aus, Jaemin kann fühlen, wie er anfängt, mit seinen Fingern zu spielen.

"Jieun hat das eine ganze Weile auch getan, weißt du", beginnt er leise, "und ich konnte ihr nicht helfen und das... das kann ich mir bis heute einfach nicht verzeihen, und jetzt bilde ich mir ein, in der Lage zu sein, dich davon abzuhalten. Beziehungsweise es auch irgendwie zu müssen, weil ich es beim letzten Mal nicht geschafft hab. Es ist Unsinn, ich weiß, und ich werd dich auch zu nichts zwingen, nur um mich nicht mehr so schlecht zu fühlen, und du hast dir darum gar keinen Kopf zu machen. Es ist nur... Ich hab bei ihr bis heute Angst, dass es doch nicht das letzte Mal war, und, gerade wo ich das bei dir jetzt so mitkriege, frage ich mich, wie oft es bei ihr war, dass sie sterben wollte. Und wer sie davon abgehalten hat, das zu tun, denn sie lebt ja augenscheinlich noch... Oder sie wollte nie sterben. Ich weiß nicht, ich hatte es mehr oder weniger hinter mir, aber du veränderst meine Sicht darauf ein w– eine ganze Menge. Es ist nicht schlimm, und auch nichts Schlechtes. Nur... Ich weiß nicht. Ich rede Unsinn."

"Tust du gar nicht", sagt Jaemin leise, "red weiter."

Jeno seufzt. Aber er tut es.

"Ich kann nicht sagen, dass ich euch verstehe oder dass ich mitfühlen kann, aber ich kann... Wir haben zu dem Zeitpunkt, als es angefangen hat, noch woanders gewohnt. Wir haben uns ein Zimmer geteilt. Und ich, naja, ich wusste, dass es ihr schlecht geht. Also, mit wirklich tiefen Verletzungen von so Freunden oder so. Manchmal hab ich auch live mitgekriegt, wie jemand... das Licht in ihren Augen einfach gelöscht hat, mit nur einem Satz. Ich wusste, dass sie es nicht mehr lange aushält, ich wusste, dass sie angefangen hat, sich zu schneiden, ich wusste, dass es ihr geholfen hat. Ich hab sie immer versorgt, deshalb sind sie besser verheilt als deine. Wenn du nicht darauf achtest, wenn du es nicht weißt, siehst du sie nicht einmal. Aber ich weiß, dass sie da sind, und bei ganz vielen weiß ich, warum, wie lange es gedauert hat, bis sie sich beruhigt hat, wie lange sie in meine Schulter geschluchzt hat. Naja, irgendwie dachte ich jetzt, als du mir das gezeigt hast, dass ich dir helfen kann, weil ich damit Erfahrung habe, mehr oder weniger. Aber ihr unterscheidet euch einfach viel zu sehr, das Einzige, was ich anwenden kann, ist das Verbinden. Vielleicht weiß ich manchmal noch, was ich nicht sagen sollte und was unbedingt, aber das war's auch. Ich weiß nicht, was ich für dich tun kann, und um ehrlich zu sein weiß ich auch nicht, was ich für Jieun tun könnte. Tut mir leid", flüstert er, "das ist wohl nicht gerade das, was du jetzt hören willst."

"Nein, ich... Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll. Sie ist immer so fröhlich und... das passt nicht in das Bild, das ich von ihr hab, weißt du?" Jeno nickt, seine Finger legen sich wieder auf Jaemins Rücken. "Und, ich meine, natürlich ist es niemals gleich, aber du hast mir nicht nur damit geholfen, dass du meine Arme verbunden hast, du sagst das Richtige und tust das Richtige und das, ohne dass ich etwas sagen muss. Allein schon, dass du mir nicht verbieten willst, das zu machen, oder dass ich dir nicht versprechen muss, es nicht zu tun, das... das bedeutet mir wirklich was und ist auch einfach... nicht so belastend. Du liebst mich auch, wenn ich damit weitermache. Du fängst mich danach auf und kümmerst dich darum, dass ich das nächste Mal nicht so einfach umfalle. Und ich bin mir sicher, dass das bei Jieun auch schon so war, auch wenn sie vielleicht nie etwas in die Richtung gesagt hat. So mittendrin merkt man überhaupt nicht, was jetzt hilft, wer jetzt hilft, es ist viel zu dunkel dafür. Aber wenn du sie nur festgehalten hast, hast du ihr sicherlich schon geholfen."

Jeno antwortet nicht.

Es dauert, bis Jaemin versteht, dass er weint.

01.08.2020
da es vielleicht ein wenig verwirrend sein mag, warum Jaemin das nicht schon früher wusste:
1) bei Jieun hat er gerade erst angefangen, an der Oberfäche zu kratzen, da sie sich einmal an seinem Geburtstag umarmt haben und seitdem auch nicht wirklich berührt.
2) sowohl bei ihr als auch bei Jeno gilt, dass sie diese Zeit "verdrängt" haben; es dauert, bis Jaemin an solche Dinge gelangt. Das gilt auch für Traumata, mentale Krankheiten, Tode von Verwandten, was euch sonst noch einfällt, an das man nicht gerne denkt. Deshalb wird es bei Jeno zwar noch dazu kommen, dass Jaemin das erfährt, besonders, wenn es nachher dazu kommt, dass Jeno ihm die Erinnerungen "überträgt" (daran denken und küssen, wie das bereits vorgekommen ist), allerdings ist es noch nicht so weit. dazu kommt außerdem auch noch, dass Jaemin sich langsam von der neuesten Vergangenheit zur Mitte arbeitet - das Präsenteste kommt also zuerst. das ist eben die Weiterführung des "das Verdrängte kommt erst später".
ich hoffe, das war verständlich? Fragen können immer gestellt werden ^^

can't you see me? ❈ nomin ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt