tw: selfharm
Lange herrscht Stille, als sie allein sind.
"Ich mach das nicht, weil ich denke, dass ich das verdient habe", flüstert Jaemin.
"Warum dann?"
"Du hast sie doch gesehen, die blauen Flecken. Sobald ich sie ansehe, kann ich es fühlen, ihre Schläge, ihre Leben. Und ich hab sie überall. Und das... zeigt mir wieder, dass das mein Körper ist. Nicht nur ...eine Spielfigur, nicht von jemand anderem eingenommen, nicht nur ein Behälter für fremde Leben. Ich bin derjenige, der die Kontrolle hat."
"Aber warum musst du dir selbst Schmerzen zufügen, um das zu beweisen?"
"Wie soll ich es sonst machen? Was ist so intensiv und so echt wie der Schmerz eines Schnittes? Die Wärme des Blutes? Wenn ich eine Alternative hätte, wäre ich schon lange umgestiegen."
"Was ist mit mir, Jaemin? Bin ich nicht deine Entscheidung gewesen?"
"Du bist trotzdem jemand anderes in meinem Kopf."
Stille.
"Ich will einfach nur nicht, dass du dir auch noch selbst Schmerzen zufügst", flüstert Jeno, "ich will nicht, dass du an noch mehr leidest."
Jaemin setzt sich vor ihn, nimmt seine Hände, wartet, bis er aufsieht. "Ich hasse mich nicht, Jeno. Ich leide nicht. Es sagt mir nur, dass ich noch ich selbst bin und mir selbst gehöre. Früher war es... die Fähigkeit. Die hasse ich. Und früher wollte ich... sie aus mir herausschneiden, weißt du? So hat es sich angefühlt. Weniger unverletzte Haut, weniger ich, weniger Fähigkeit. Aber jetzt... Jetzt weiß ich, dass es besser wird. Dass es mir garantiert ist, dass es besser wird. Es ist nur Kontrolle, Jeno. Nichts anderes. Zu wissen, dass ich noch ich selbst bin."
Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde hat Jeno ihn an sich gezogen, fest und doch sanft an sich gedrückt, Jaemin schließt die Augen und schlingt die Arme um seine Schultern.
"Wenn ich dir irgendwie helfen kann", seine Stimme zittert fast, "wenn ich irgendetwas tun kann, bitte sag mir das."
Jaemin nickt, fährt mit seinen Fingern durch Jenos weiche Haarsträhnen und beruhigt ihn damit etwas, wenn auch unbeabsichtigt.
"Hast du dich schon entschieden, bunny?", fragt Jeno nach einer Weile, "wie es jetzt ist mit uns in der Schule?"
Jaemin kaut auf seiner Unterlippe herum. "Immer", sagt er leise. Lieber nimmt er noch einmal solche Schmerzen in Kauf, als von Jeno getrennt zu sein.
"Okay. Dann brauche ich deinen Stunden- und Raumplan. Schickst du mir den, wenn du zu Hause bist?"
Jaemin nickt, vergräbt sein Gesicht in Jenos Halsbeuge. Er will nicht nach Hause.
"Wir sehen uns morgen wieder, Engel."
"Ich weiß." In seinem meistverhassten Umfeld.
"Wann bist du wieder bei RV?" Jeno malt auf Jaemins Rücken herum, es entspannt ihn ein wenig.
"Mittwoch. Direkt nach der Schule. Und Samstag. Ein bisschen länger. Über Mittag."
"Soll ich an beiden Tagen mitkommen?" Jaemin nickt, und wieder herrscht Stille.
"Es ist spät, bunny." Jeno schiebt ihn vorsichtig von sich, mustert ihn, seine Unsicherheit, seine bittenden Augen, ein offenes Buch für seinen Freund. "Soll ich dich nach Hause bringen?"
"Aber du musst doch dann wieder zurücklaufen..."
"Richtig. Und?"
"Das ist Aufwand."
"Den ich mir für dich gerne mache."
"Aber..."
"Bunny. Möchtest du, dass ich dich nach Hause bringe? Ja oder Nein."
Jaemin sieht weg. "Ja."
"Na also. Dann komm. Schaffen wir den nächsten Bus?"
"Ich guck." Jaemin holt sein Handy heraus, während Jeno seine wöchentliche Nahrungsversorgung zusammensammelt und sie in einen Rucksack räumt, diesen neben Jaemin auf das Sofa stellt. Der Jüngere sieht auf, erhascht noch einen Blick auf den Inhalt, friemelt an seiner Handyhülle herum.
"Du sollst das nicht immer machen..."
Jeno hebt sein Kinn an, lächelt sanft. "Du sollst vernünftig essen. Und so lange du das nicht schaffst, sorg ich eben dafür, dass du zu Hause nicht verhungerst."
"... Danke", flüstert Jaemin. Jeno hält ihm seine Hand hin, hilft ihm auf die Füße, platziert einen Kuss auf seiner Stirn, zieht ihn in den Flur.
"Laufen oder Bus?"
"Bus", murmelt Jaemin, "zehn Minuten."
Also zieht Jeno ihn an sich und küsst ihn.
"Bunny." Jaemin blinzelt ein paar Mal, sieht Jeno fragend an. "Ich liebe dich."
Ein Lächeln erstrahlt auf seinem Gesicht. "Ich dich auch."
❈
Dadurch, dass Jeno und manchmal auch die anderen fast immer an Jaemins Seite sind, wird die Schule zu einem beinahe erträglichen Ort, er gerät in keine weiteren Schwierigkeiten und scheint den meisten wohl egal zu sein – vorerst. Und er hat Angst, wie es wird, wenn das nicht mehr so ist.
Am Mittwoch ist Jaemin schon den ganzen Tag irgendetwas zwischen aufgeregt und nervös, sodass er in seiner letzten Stunde mehr als nur unruhig ist und sich nicht auf den Unterricht konzentrieren kann, stattdessen zwei Doppelseiten mit Hasen vollzeichnet. Er kann es sogar fast nicht aushalten, der Letzte vor dem Lehrer zu sein, der den Raum verlässt.
Jeno ist noch nicht da, also hockt Jaemin sich auf den Fußboden und schlägt sein Buch auf, zuckt zusammen, als jemand schlitternd vor ihm zum Stehen kommt, aber als er Jenos Schuhe erkennt, hat er sofort sein Buch zugeklappt und ist aufgestanden, seinen Blick erwartungsvoll auf Jeno gerichtet.
"Bunny, verzeih mir, aber ich wurde unfreiwillig eingespannt, die Bücher in den neuen Bibliotheksraum zu bringen." Jaemin entgleisen seine Gesichtszüge, und er spürt Jenos Schuldbewusstsein. "Chenle wartet am Haupteingang auf dich, er bringt dich hin, und ich komm nach, sobald ich fertig bin. Er hat auch gesagt, wenn du willst, bleibt er noch ein bisschen." Jeno holt tief Luft, schließlich ist er hergesprintet, um Jaemin vom Zuspätkommen abzuhalten. "Es tut mir leid, ich beeil mich, und dann geh ich auch nicht."
Jaemin sieht auf den Boden, drückt sein Buch an sich. "Okay."
"Sieh mich an, bunny. Ich schaff das in weniger als einer halben Stunde, und das ist ein Versprechen, okay?" Jaemin nickt, spürt seine Nervosität wachsen, ohne Jeno fühlt er sich nicht sicher, aber es führt wohl kein Weg daran vorbei.
"Küsst... du mich wenigstens noch vorher...?"
Jeno lächelt, nimmt Jaemins Kopf in seine Hände, küsst ihn sanft.
"Ich bring dich noch zu Chenle, ja?"
Jaemin nickt, nimmt bereitwillig Jenos ausgestreckte Hand, und so gehen sie Hand in Hand durch die überfüllten Gänge, bis zum Haupteingang, und bevor Jaemin überhaupt weiß, wie ihm geschieht, hat Jeno ihm schon einen Kuss auf die Lippen gedrückt und ist verschwunden.
23.07.2020
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can't you see me? ❈ nomin ✓
Fanfic𝙣𝙤𝙬 𝙥𝙡𝙖𝙮𝙞𝙣𝙜: can't you see me - txt 03:06 ────────────●─ 3:21 ⇆ㅤㅤ ㅤ◁ㅤㅤ❚❚ㅤㅤ▷ㅤㅤ ㅤ ㅤ↻ 𝙣𝙚𝙭𝙩 𝙛𝙧𝙤𝙢: 𝙙𝙖𝙣𝙘𝙞𝙣𝙜 𝙞𝙣 𝙩𝙝𝙚 𝙧𝙖𝙞𝙣 runaway - eric nam » Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles vereint in dem fast ach...