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Lange dauert es, bis Jaemin sich beruhigt hat, und immer noch traut Jeno sich nicht, ihn loszulassen, wartet, bis er es tut. Aber Jaemin will ihn nicht loslassen, hat Angst, was er in seinen Augen sehen wird, was er sagen wird. Er kann nicht richtig nachdenken, eigentlich überhaupt nicht, da ist zu viel Jeno, aber er will nicht loslassen. Nicht loslassen, nicht loslassen, lass mich nicht los.

Es wird zu viel, und mithilfe der Erschöpfung wird Jaemin davon ausgeknockt. Jeno kann fühlen, wie er gegen ihn sackt, platziert vorsichtig einen Kuss auf seinen Haaren und drückt ihn an sich, ein wenig erleichtert. Kurz erwägt er, so sitzen zu bleiben, aber stattdessen bettet er Jaemins Kopf im Kissen, zieht die Decke unter ihm hervor und legt sie über ihn, nimmt sich Zeit, seine Wangen zu trocknen, wirre Strähnen zu richten. Jaemin ist hübsch, wenn er schläft, fällt Jeno auf, er muss lächeln, obwohl seine Gedanken nicht erfreulich sind, die Situation nicht erfreulich ist. Es war ihm mehr oder minder bewusst, dass Jaemin kein einfaches Leben haben muss, aber dass nicht einmal seine eigenen Eltern hinter ihm stehen, gleicht nun doch einem Schlag ins Gesicht. Seine eigenen mögen vielleicht andere Ansichten haben, aber ihre Absichten sind dennoch schon immer die besten gewesen. Das macht es für ihn beinahe unvorstellbar, dass Eltern ihre Kinder nicht unterstützen, und er versteht es auch einfach nicht.

Dass Jaemin sich auf die Seite dreht, urplötzlich, holt Jeno aus seinen Gedanken, sofort liegt sein Blick wieder auf dem Jüngeren. Er tastet nach etwas, schlägt die Augen auf, sie werden groß, als er Jeno erblickt. Es folgt die Realisation, und er schließt seine Augen wieder. Die Erschöpfung, Hoffnungslosigkeit konnte Jeno dennoch erkennen.

"Ich kann nicht mehr, Jeno", flüstert er, "ich will nicht mehr." Jenos Herz gerät ins Stolpern bei der Resignation in Jaemins Stimme.

"Ich bin bei dir, bunny." Er streicht über seine Wange, lächelt leicht und doch so sanft. "Es wird. Das verspreche ich dir."

"Meine Eltern nehmen mich dir weg." Jaemin dreht sich von ihm weg, zieht sich die Decke bis zur Nase über das Gesicht.

"Was wollen sie tun? Dich auf eine andere Schule schicken? Dir dein Handy wegnehmen? Umziehen? Ich werde dich finden. Egal, wo du bist. Und wenn du irgendwo in Europa rumhängst. Ich lasse mich nicht von dir fernhalten von jemandem, der keine Ahnung hat, seinen Sohn nicht zu wertschätzen weiß, ihm nicht eine Sekunde Glück gönnt. Ich komm auch an den Nordpol, um dich von da zu entführen."

Jaemin schließt die Augen. "Danke", flüstert er.

"Möchtest du mit zu mir? Eine Pause machen? Wir nehmen alles mit, was du brauchst. Du kannst auch bei mir schlafen, wenn du das möchtest. Ein Nein ist okay."

"Kann ich darüber nachdenken?", haucht Jaemin.

"So lange, wie du brauchst. Kannst du dich aufsetzen? Du musst etwas trinken." Mühsam folgt er Jenos Worten, stützt sich ab, quält das Wasser seinen Hals hinunter, während Jeno den Hasen auf seinen Schoß setzt.

"Wenn es besser ist, kaufen wir einen echten."

Jaemin hat das Glas zum Glück ausgetrunken, denn es fällt ihm aus der Hand und hinter Nono. "Wir?", stammelt er.

"Bin ich nicht dein ganzes Leben bei dir?", schmunzelt Jeno, und Jaemin wird rot.

"Nein, also, ja, schon, aber, ich..."

"Hey, schon gut. Was möchtest du jetzt machen?"

"Zu dir gehen." Denn sein Vater wird bald zu Hause sein, und dem will er um keinen Preis begegnen.

"Wie lange?"

Jaemin wird still.

"Morgen", flüstert er nach einer ganzen Weile. Er will hier weg. Nirgendwo fühlt er sich mehr sicher.

"Dann packen wir deine Sachen ein. Alles, was du brauchst, und du verschweigst mir nichts, denn du kannst alles mitnehmen. Und wenn ich einen Möbelwagen rufen muss." Ein leichtes Lächeln huscht über Jaemins Lippen, es erleichtert Jeno. "Na komm, sonst kommst du nachher noch in Stress." Zögerlich steht Jaemin also auf, sie packen gemeinsam seine Tasche, letztendlich werden es sogar zwei, so viele Bücher will er mitnehmen, und auch Kissen und Stoffhase nehmen viel Platz ein.

"Das ist alles?" Jaemin nickt. Am liebsten hätte er auch seine Decke mitgenommen, doch dafür reicht der Platz nicht, und sein Kissen reicht aus.

Gerade als sie ihre Jacken anziehen, Jaemin hat noch nachgesehen, ob der Bus bei Jeno in der Nähe hält, geht die Haustür auf, und Jaemins Blut gefriert.

Es war zu erwarten, dass sein Vater sofort etwas sagt. Doch dass es so schlimm passiv-aggressiv ist, konnte er nicht ahnen. Kaum ein Schimpfwort kommt vor, und doch in so gut wie jedem Satz eine Beleidigung. Dabei bleibt er ruhig, und das macht es fast noch schlimmer. Seine Worte brennen sich in Jaemins Gedanken ein, wie ein Tattoo, gesellen sich zu allem anderen, das jemals zu ihm gesagt wurde. Du bist eine Enttäuschung. Du bist nutzlos. Du bist wertlos. Du bist ein Versager. Nichtsnutz. Zeitverschwendung. Schwächling. Schande. Enttäuschung. Wir hätten dich abtreiben sollen.

Das ist der Punkt, an dem Jeno genug hat.

"Sie betreiben da gerade verbale Kindesmisshandlung, und Ihre Frau hat das ebenfalls getan, Sie sollten sich also schleunigst überlegen, ob Sie das nicht lassen wollen. Eigentlich haben Sie es überhaupt nicht verdient, dass man höflich zu Ihnen ist, und ich sage es nur, damit Sie mir keine Entführung vorwerfen können: Ich werde auf ihn aufpassen, besser, als Sie es tun, und kommen Sie ihn bloß nicht suchen." Jeno könnte explodieren vor Wut, doch er dreht sich nur um, seine Hand schließt sich fest um Jaemins, er öffnet die Haustür und zieht ihn mit sich hinaus, Jaemins Vater ignorierend, und sie rennen die Straße hinunter.

Bis sie bei Jeno sind, lösen sie ihre Finger nicht ein einziges Mal voneinander.

15.07.2020

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