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tw: selfharm, suicidal thoughts

"Jeno-yah!" Er dreht sich zu Renjun um, hebt fragend eine Augenbraue, und sieht zu, wie der Kleinere sich auf die Anrichte setzt. "Wollte Jaemin nicht dabei sein?"

Jeno seufzt, beschäftigt sich wieder mit dem Essen. "Er hat Stress mit seinen Eltern und durfte deshalb nicht." Er hat ihn noch vor Augen, so enttäuscht und resigniert, die ganze Zeit schon.

"Oh. Schon wieder?" Die Vorfälle häufen sich ziemlich in letzter Zeit, der Einzige, der Jaemin noch außerhalb der Schule zu Gesicht bekommt, ist Jeno.

"Es scheint alles, was Jaemin macht, in letzter Zeit gegen den Strich seiner Eltern zu gehen. Mittlerweile hat es aber wieder mehr den Anschein, dass sie ihn von mir, und eigentlich uns allen, fernhalten wollen."

Renjun zieht seine Knie an und legt seinen Kopf auf ihnen ab, mustert Jeno nachdenklich. "Und er will immer noch nicht mit deinem Vater reden?"

Jeno schüttelt den Kopf. "Er hasst sie vielleicht, aber sie sind immer noch seine Eltern. Er weiß nicht, was passiert, wenn er das tut, und davor hat er Angst."

"Aber kann dein Vater ihm das nicht sagen, und dann kann er immer noch zurückziehen?"

"Noch sträubt er sich einfach zu sehr dagegen." Jeno setzt seine Brille ab und reibt sich die Augen. "Ich weiß nicht, wie lange noch, aber ich hoffe, dass er bald aufhört." Jeno sieht die Auswirkungen auf den Jüngeren, und er verflucht seine Eltern jedes Mal aufs Neue.

"Du kriegst ihn nicht überzeugt?"

"Ich will ihn nicht dazu zwingen. Er weiß, dass ich dafür bin, dass er endlich mit meinem Vater redet, und ich werde diese Entscheidung nicht für ihn treffen und auch nicht beeinflussen."

Renjun rutscht von der Arbeitsplatte, nimmt Jeno ein paar Tüten ab. "Du solltest weniger darüber nachdenken und mehr schlafen."

Jeno folgt ihm wortlos, doch er weiß, dass Renjun recht hat. Aber es ist ihm schlichtweg unmöglich, sich davon abzulenken, schließlich ist es Jaemin, und um den macht er sich immer Sorgen, und durch die momentane Situation besonders. Er ist immer so still und kaum noch fröhlich, hängt in Gedanken, liest ständig, spricht immer weniger. Jeno hofft nichts mehr, als dass es bald vorbei ist. Dass Jaemin wieder lächeln kann. Wieder fröhlich ist. Wieder er selbst.

Für Jeno läuft das Fass über, als Jaemin in der Pause nicht auf ihn wartet, sich in eine Ecke verkriecht, und Jeno findet ihn erst zum Ende, sodass sie nicht einmal miteinander reden, Jaemin sieht ihm kaum in die Augen, und trotzdem kann Jeno sehen, dass sie wieder leer sind, ihr Leuchten erloschen ist. Dann ist er auch schon wieder weg, in der Menschenansammlung verschwunden, obwohl er sie so hasst.

Die nächsten Pausen läuft es nicht anders, nur dass Jeno ihn nicht ein einziges Mal findet, egal, ob er rechtzeitig vor seinem Raum steht, egal, wie oft er jeden Meter der Schule absucht. Donghyuck und Renjun haben ihn noch nie so in sich gekehrt erlebt, und allein deshalb ist klar, dass es etwas mit Jaemin zu tun hat – mehr erfahren sie aber auch nicht, er schweigt, nicht nur darüber, verliert allgemein nicht ein Wort, seine Gedanken kreisen um Jaemin Jaemin Jaemin Jaemin.

Und so ist er mit dem Klingeln aus dem Klassenraum verschwunden, stattet erst Jaemins einen Besuch ab, bevor er seinen Nachhauseweg geht, mit der winzigen Hoffnung, ihn einzuholen, die mit jedem Schritt etwas kleiner wird.

Aber er hat Glück, sieht ihn ein paar Abzweigungen vorher und sprintet ihm hinterher, hält ihn vorsichtig an seinem Handgelenk fest, und Jaemin stoppt, dreht sich zu ihm um. Kein Lächeln, überhaupt keine Reaktion, nichts.

"Was hab ich getan?", fragt Jeno leise.

"Nichts", erwidert Jaemin, den Blick auf den Boden gesenkt.

Jeno lässt seinen Arm los. "Was ist es dann?"

Lange schweigt Jaemin. Dann zieht er seinen Ärmel hoch.

"Du bist der einzige Grund, dass ich es nicht schaffe, tiefer zu schneiden. Aber ich will nicht mehr leben."

Jedes Wort erschüttert Jeno bis ins Mark, schnürt ihm die Kehle zu, und so kann er nichts sagen.

Also dreht Jaemin sich um und geht weiter, aber Jeno macht einen Schritt nach vorne und zieht ihn zurück, legt seine Arme um Jaemins Taille, damit er nicht wieder entwischen kann.

"Ich will aber nicht, dass du stirbst."

"Damit bist du allein." Jaemin will sich aus Jenos Armen winden, aber er lässt ihn nicht.

"Ich bin für den Rest deines Lebens bei dir. Und ich werde das nicht nur noch ein paar Tage sein lassen. Ich will gefälligst deinen neunzigsten Geburtstag feiern."

Einfach so fließen Tränen über Jaemins Wangen, er wischt sie immer wieder weg. "Ich will nicht. Ich hasse es hier. Ich will aufhören."

"Was haben deine Eltern getan? Warum ist es jetzt so viel schlimmer?"

"Sie hassen mich, Jeno. Sie freuen sich, wenn ich tot bin."

"Warum willst du ihnen den Gefallen dann tun?"

"Weil ich es verdammt nochmal nicht aushalte! Jeden Tag aufs Neue bin ich für jemanden die größte Enttäuschung, und das lassen sie mich spüren, jeden Tag aufs Neue! Nur weil das schon immer so ist, heißt das nicht, dass ich das nicht auch irgendwann nicht mehr aushalte!"

"Warum tust du nicht etwas? Du kannst immer zu mir kommen, du kannst mit meinem Vater sprechen, du kannst mir meinetwegen sogar Briefe schreiben, wenn du nicht anders mit mir kommunizieren kannst. Irgendetwas, Jaemin. Und wenn du nur mich nach Hilfe fragst. Dass ich deine Hand halte, damit du weitergehen kannst. Ich will dich nicht verlieren, weil deine Eltern dich nicht richtig behandeln. Ich will dich nicht verlieren, weil jemand dich in den Selbstmord treibt. Niemand außer dir darf einen Einfluss darauf haben." Jaemins Stirn sinkt gegen seine, er schluchzt auf, hat es aufgegeben, die Tränen wegzuwischen. "Ich bin hier, bunny. Auch wenn niemand sonst da ist. Auch wenn alles um dich herum in Trümmern liegt. Auch wenn du im Dunkeln stehst. Auch wenn du aufgeben willst. Ich bin immer hier und du musst nur deine Hand ausstrecken, dann komme ich zu dir und helfe dir aus den Trümmern, aus der Dunkelheit, aus der Hoffnungslosigkeit. Und das wird immer so bleiben."

24.07.2020

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