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Jaemin weint an Jenos Schulter, kann sich allein nicht aufrecht halten. Jeno stützt ihn nur, ganz leicht, flüstert ab und zu ein paar beruhigende Sätze in seine Haare. Es ist ein weiteres Mal, dass Jaemin – hauptsächlich – wegen seiner Eltern einen Zusammenbruch hat, und langsam verflucht Jeno es, ihn nicht dazu zwingen zu können, etwas zu tun. Er will es nicht, aber er will ihn dort rausholen, bevor es zu spät ist. Nicht nur vor seinen Eltern retten, auch vor sich selbst. Es wird schlimmer, und er kann nichts tun.

"Kannst du mich ansehen?", fragt er leise, Jaemin dreht seinen Kopf, sodass ihre Blicke sich begegnen. Er bebt förmlich, kann kaum etwas erkennen. Jenos Liebe spürt er trotzdem.

"Du kannst dich jederzeit bei mir melden. Besonders, wenn es dir schlecht geht. Aber es geht aus jedem Grund. Sobald du denkst, dass du mich anrufen möchtest, kannst du es tun. Ich will dich nicht allein lassen und ich werde auch jeden Tag nachfragen, wie es dir geht, und versuchen, es besser zu machen. Ich möchte nicht, dass du durch irgendetwas alleine musst. Ich bin dafür da, dir zuzuhören und zur Seite zu stehen." Jaemin nickt, schluchzt, klammert sich an ihn.

Wie in Gedanken kommt Jeno ihm näher, stoppt aber, bevor er ihn küssen kann. "Darf ich?", fragt er leise nach. Jaemin antwortet nicht, küsst ihn nur, und wird zurückversetzt an den Tag, an dem sie im Gewitter standen, mit all den Gefühlen und Gedanken von Jeno.

Es reicht, dass Jaemin wieder etwas Halt findet, seine Gedanken sich ein wenig beruhigen, er sich an Jeno festhalten kann, der daraufhin vorsichtig seine Arme um ihn legt und nach einer Weile auch auf seinen Schoß zieht.

"Du bist nicht allein, bunny", flüstert er, "ich bin bei dir."

Selbst als Jaemin nur noch schnieft, bleiben sie so sitzen, Jeno streicht weiterhin leicht über seinen Rücken und hält ihn an sich gedrückt.

"Es ist nicht deine Aufgabe, mich rauszuholen", sagt Jaemin leise, ist noch heiser.

"Das weiß ich. Und ich werde das auch nicht tun, wenn du dir die Mühe nicht machst. Aber ich kann dich wenigstens festhalten, wenn deine Kraft nicht mehr reicht."

Jaemin weiß nicht was er antworten soll, er kann ja kaum einen vernünftigen Gedanken fassen. Er ist erschöpft, steckt irgendwo in der Dunkelheit ohne Orientierung, ohne Licht, nur mit Jenos Wärme.

Sie bewegen sich nicht, sprechen nicht, und schon hat Jeno einen schlafenden Jaemin im Arm, er kann spüren, wie der Jüngere sich entspannt, gegen ihn sackt. Nach einigem Hin und Her mit sich selbst legt Jeno sich hin, auf den Rücken, und da bei ihm selbst die Müdigkeit noch nicht zugeschlagen hat, lauscht er eine ganze Weile lediglich Jaemins leisem Atem, hängt in Gedanken, bis er ebenfalls einschläft.

Jaemin braucht knappe elf Stunden, um wieder aufzuwachen, Jeno nur neun und die dazwischenliegende Zeit verbringt er wohl zum Großteil damit, Jaemin beim Schlafen zuzusehen. Als dieser aber die Augen aufschlägt, ist Jeno mit dem Lesen des Buches, das zuletzt in Jaemins Hände gefunden hat, beschäftigt, sieht aber auf, sobald er merkt, dass Jaemin wach ist.

"Guten Morgen, bunny."

"Ich will nicht nach Hause."

Jeno legt das Buch beiseite und mustert Jaemin, etwas deprimiert, dass das sein erster Gedanke nach dem Aufwachen ist. "Noch musst du nicht."

"Ich will nie wieder."

Jeno seufzt leise, verständnisvoll, streicht über Jaemins wirres Haar. "Jetzt essen wir erstmal etwas, ja? Oder möchtest du duschen?"

"Duschen", sagt Jaemin leise, also steht Jeno auf, während er sich hinsetzt und müde die Augen reibt, bevor er es Jeno gleichtut und zögerlich neben ihn an dessen Schrank tritt.

"Such dir aus, was du willst. Denk dran, dir steht alles zur Verfügung." Jeno schmunzelt. "Möchtest du, dass ich oben bleibe?"

Lange sieht Jaemin auf seine Füße hinab. Dann nickt er.

"Wann soll ich nach dir sehen?"

"Zwan– Zwanzig Minuten?"

"Okay. Komm her, Engel~" Fragend dreht Jaemin sich ihm zu und hat sofort Jenos Lippen auf seinen eigenen, nur kurz, doch da es ihm nicht reicht, nimmt er Jenos Kopf in die Hände und küsst ihn erneut. Als sie sich lösen, lächeln beide.

"Danke, dass du da bist", sagt Jaemin leise, "und dass du mich hierhältst."

"Das bleibt hoffentlich auch noch eine Weile so." Jeno hebt sein Kinn an, lächelt. "Hochsehen, bunny. Sonst verpasst du noch etwas."

Rot, wie er ist, wendet Jaemin sich ab und verschwindet gleich darauf mit wahllos herausgesuchter Kleidung im Bad. Jeno lässt die Zimmertür offen, bemerkt so, wie Jaemin seinen Kopf durch die gegenüberliegende Tür schiebt, und er steht auf, kommt zu ihm.

"Mit Verbänden kann ich nicht duschen, richtig?"

"Richtig."

"Brennt das?"

"Vermutlich. Du musst aufpassen mit dem Schaum. Und wenn du fertig bist, mach ich dir neue Verbände, okay? Wenn du noch welche brauchst und nicht nur die Creme reicht." Jaemin nickt, bleibt aber noch stehen, und so ist es Jeno ein Leichtes, in seinen Augen zu lesen.

"Soll ich sie abmachen?"

Jaemin sieht weg, nickt. "Ich bin doch der, der Gedanken lesen kann", flüstert er. Jeno lächelt und drückt ihm einen Kuss auf die Stirn, schiebt ihn in den gefliesten Raum.

"Ich kann dich so leicht lesen wie du deine Bücher, bunny." Er schließt die Tür hinter ihnen und setzt Jaemin auf dem Badewannenrand ab, nimmt seine Hand und wickelt die Verbände von seinen Armen. Etwas an seinen ruhigen Bewegungen gibt Jaemin ein inneres Gefühl der Sicherheit, des Schutzes, das auch bleibt, als Jeno loslässt und die Kompressen wegwirft, kurz in den Schrank sieht, um zu kontrollieren, ob genug von ihnen übrig sind.

Als er sich mit der Bestätigung zurückdreht, steht in Jaemins Augen wieder dieser Ausdruck, dass er etwas möchte, aber sich nicht traut, danach zu fragen. Nur dass Jeno diesmal nicht weiß, was es ist.

"Was möchtest du, bunny?" Sofort schließt Jaemin die Augen, senkt seinen Kopf. "Komm schon", setzt Jeno noch hinterher, als keine Antwort kommt, "ich krieg's sowieso raus. Was soll ich machen? Etwas sagen? Dich küssen?"

"Hierbleiben", platzt es aus Jaemin heraus, sofort läuft er rot an. "Ohne hinzusehen", schiebt er noch ganz leise hinterher.

"Das schaff ich. Du sagst mir, wann ich mich um- und wann zurückdrehen soll, ja?"

Jaemin nickt, den Blick stur auf den Boden gerichtet. Himmel, warum musste er das nur sagen?

"Es gibt mir Sicherheit", sagt er leise.

"Bunny, du musst dich für gar nichts rechtfertigen. Wenn du möchtest, dass ich bleibe, bleibe ich, ohne nachzufragen, okay?" Wieder nur ein Nicken, Jeno streicht ihm über die Wange. "Ich setz mich hierhin, ja? Lass dir Zeit."

Jaemin fühlt sich sicherer, wenn er Jeno in greifbarer Nähe weiß.

28.07.2020

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