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Als Jaemin seine Erzählung beendet hat, sieht er unsicher zu Jenos Mutter auf, spielt mit seinen Fingern. Sie holt hörbar tief Luft, trinkt ein paar Schlucke Kaffee. Jaemin Tasse ist schon lange leer.

"Ganz egal bist du ihr ja nun nicht, wenn sie dir schreibt und das auch klären möchte. Wie es auf dich wirkt, weiß sie ja vorher nicht."

"Ich bin ihr egal", erwidert Jaemin verbissen, "es geht ihr nur um–" Er presst seine Lippen aufeinander, Angst macht sich in ihm breit. Das wohl entscheidendste Detail hat er ausgelassen.

"Es geht ihr nur um was?", hakt Jenos Mutter nach. Jaemin muss sich überwinden, überhaupt den Mund aufzukriegen.

"Unsere Fähigkeit", bringt er gerade so hervor. "Die Leben anderer Menschen zu sehen."

Jenos Mutter lacht etwas ungläubig auf. "Bitte?"

Jaemin sieht auf. "Wenn Sie es mir nicht glauben, kann ich es Ihnen zeigen."

"Wie funktioniert das, hm? Kannst du Gedanken lesen?"

"Was willst du wissen, Eomma?" Jaemin ist Jeno dankbar, dass er es übernimmt. "Von mir. Was kann ich ihm nicht erzählt haben?"

Darüber denkt sie nach. "Unsere Hochzeit", sagt sie. "Du warst zu klein, um dich daran zu erinnern."

"Haben Sie eine präzise Sache?", fragt Jaemin leise nach.

"Meine Schwester sitzt ganz hinten im Standesamt. Sag mir, wie ihre Schuhe aussehen."

Jeno hält Jaemin seine Hand hin, er nimmt sie zögerlich, schließt seine Augen, um sich zu konzentrieren. Jeno kann ihm nur eine vage Erinnerung geben, wie er auf dem Arm seiner Mutter ist, aber schnell wird alles klar, er könnte der Standesbeamtin zuhören. Stattdessen sieht er sich um, macht schnell Jenos Tante aus, da sie einander zuwinken.

"Vans", sagt er, öffnet seine Augen, "schwarze Vans mit roten Schnürsenkeln, passend zu ihrem Jackett."

Lange schweigt Jenos Mutter. "Das verändert die Sache wohl ein wenig", murmelt sie. Jaemin löst seine Hand wieder aus Jenos und faltet sie in seinem Schoß, sieht auf sie hinab.

"Nun", beginnt die Anwältin erneut, "da es dir zu schaffen machen scheint, sage ich dir zwei Dinge; du solltest mit deinen Eltern sprechen, und du kannst immer hierherkommen, jederzeit, ob wir da sind, ob Jeno da ist, auch wenn keiner da ist, Jeno kann dir zeigen, wo der Schlüssel für die Seitentür ist. Falls es tatsächlich zu Misshandlung kommt oder du das Gefühl hast, dass es solche sein könnte, werden könnte, sprich mit meinem Mann. Er ist Anwalt für Familienrecht und kennt sich damit also aus. Das gilt auch bei verbaler Misshandlung, die wird häufig übersehen oder heruntergespielt. Mach dir keine Kopf darum, ob deine Eltern kontaktiert werden, bis dahin ist es noch ein langer Weg, wenn du es nicht unbedingt willst. Und auch wenn du dir unsicher bist, was du willst, wird er dir sicherlich Hilfestellung leisten oder dir solche besorgen. Ich möchte nicht, dass du mit der Sache allein bist, und auch nicht ihr beide."

"Danke", flüstert Jaemin.

Er erhält von einer fast fremden Frau mehr mütterliche Liebe als von seiner eigenen Mutter. Fast ist er froh darüber.

Sie entlässt die beiden schlussendlich, Jaemins Zittern ist ihr nicht entgangen, sein Rückzug ebenfalls nicht. Und Jeno nimmt auf dem Weg nach oben schon seine Hand, zieht ihn in eine Umarmung, als sie in seinem Zimmer stehen.

"Das hast du gut gemacht", flüstert er, "wirklich."

Jaemin schließt die Augen, atmet Jenos vertrauten, Sicherheit spendenden Geruch ein. "Können wir etwas spielen?", fragt er leise. "Ich möchte mich ablenken."

"Natürlich." Jeno lässt ihn los und sie setzen sich an sein Bettende, wie schon die Male zuvor mit Jaemin zwischen Jenos Beinen, und auch Nono fehlt nicht. Und so wird Jaemins Zittern weniger, er wird wieder ruhiger, denkt wieder an andere Dinge.

"Wirst du auch mal Anwalt?", fragt er, während sie auf ihre Auswertung warten.

Jeno seufzt. "Meine Eltern wollen das. Ich will eigentlich Architekt werden. Ji will schon, deshalb komm ich vielleicht aus der Nummer raus, hoch ist die Wahrscheinlichkeit aber nicht."

"Warum wollen sie, dass du etwas tust, das du nicht willst?"

"Sie wollen, dass unsere Leben nicht aus den Fugen geraten können, dass sie fest geplant sind. Wir könnten ja unsere Anstellung verlieren und alles. Das wäre gesichert, wenn wir ihre Plätze in der Kanzlei übernähmen."

"Hm. Naja, also, irgendwie verständlich, aber das gehört doch dazu. Und außerdem, wenn du das nicht willst, dann wird die Arbeit doch auch echt ätzend für dich."

"Ich arbeite noch daran, sie zu überreden. Das Problem ist halt, dass Eommas Vater sie damit so ziemlich traumatisiert hat, also er hat nie lange Stellen behalten können und das hat sich wirklich extrem auf ihn ausgewirkt, in ganz vielen Lebenslagen. Deshalb will Eomma das halt für uns nicht."

"Oh. ...Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll", gibt Jaemin leise zu.

"Das musst du auch nicht, bunny, alles okay."

"Jeno?"

"Ja?"

"Küsst du mich?"

Schmunzelnd pausiert er das Spiel und bevor Jaemin sich überhaupt umdrehen kann, hat Jeno schon seine Arme um ihn geschlungen, seinen Kopf zur Seite gedreht, ihre Lippen miteinander verbunden.

"Entschuldige", flüstert er, als sie sich lösen, doch Jaemin küsst ihn erneut. Bis ihm schwindelig wird und er Jeno nach seinem Heft fragen muss.

"Du wirst besser", lächelt er, während er Jaemin zusieht, wie er eilig schreibt, um sich schneller wieder auf seinen Freund konzentrieren zu können.

"Ich gewöhne mich dran", murmelt der Jüngere, "und außerdem wird... es irgendwie leichter für mich, nicht darauf zu achten. Mich mehr auf dich zu konzentrieren und die Erinnerungen Erinnerungen sein zu lassen. Irgendwann wird es zu viel, aber sie waren sonst immer so extrem präsent und jetzt kann ich sie etwas in den Hintergrund schieben."

"Das ist doch gut."

Jaemin schenkt ihm ein flüchtiges Lächeln. "Ist es. Und irgendwann machst du sie auch ganz weg."

"Ja. Das mach ich."

Zögerlich sieht Jaemin auf, aber wieder nach unten, malt Hasen in sein Heft.

"Bunny?", hakt Jeno nach, lächelnd.

"Können wir aufhören und miteinander reden?"

"Natürlich." Er schaltet die Konsole aus, räumt die Controller weg. Jaemin spielt nervös mit seinen Fingern, auch als er wieder bei ihm sitzt.

"Gibt es etwas Bestimmtes?"

Jaemin denkt nach. Dann leuchtet er auf. "Ich muss dir noch ein Buch zeigen."

Jeno ist so unglaublich verliebt.

19.07.2020

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