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In Jenos Bett kommt er wieder zu sich, schnappt nach Luft, sucht nach seinem Freund.

"Ich bin hier, Engel", hört er ihn, beruhigend, "alles okay."

Jeno sitzt neben ihm, eine Hand mit seiner verschränkt, ihn besorgt ansehend. Jaemin zieht seine Hand weg, seine Beine an seinen Oberkörper, schlingt seine Arme um sie.

"Was ist passiert?", fragt Jeno, alarmiert von Jaemins abwehrender Haltung.

"Ich nehme dir deine Kindheit weg." Und wieder dreht sich alles.

Jeno streckt seine Arme nach ihm aus. "Bunny. Komm her. Du hyperventillierst."

"Ich kann nicht– Ich will nicht–"

"Es ist egal, was passiert, Jaemin. Du musst dich beruhigen, und dann sehen wir weiter."

Eine Sekunde, zwei Sekunden. Jaemin greift nach Jenos Händen und lässt sich etwas näher an ihn heranziehen, beruhigt seinen Atem mit Jenos Hilfe. So wird wieder Platz für Tränen, aber er schluckt sie herunter.

"Also, bunny?", hakt Jeno leise nach, nimmt seinen Kopf vorsichtig in die Hände, bevor sie wieder zurück zu Jaemins gleiten.

"Ich hab mit Eomma geredet. Und, und sie hat gesagt, dass sie schonmal jemandem die Erinnerungen weggenommen hat. Und dass ihre Fähigkeit so ist wie immer. Und jetzt–" Er atmet tief durch. "Ich hab's auch gemacht. Dir eine Erinnerung genommen."

Jeno sieht ihn fragend an. "Welche?"

"Von– Von deinem ersten Videospiel. Auf, auf dem alten Gameboy deines Vaters."

Stille.

"Krass", sagt Jeno nur.

"Krass?! Jeno, ich nehme dir dein ganzes Leben weg, und du findest das krass?"

"Bunny." Jenos Griff wird etwas fester. "Das ganze letzte Jahr ist nichts passiert. Und das ist nun keine große Erinnerung."

"Und wenn das nur der Anfang ist? Wenn du dich irgendwann an gar nichts mehr erinnerst?" Jaemins Sicht verschwimmt.

"Dann ist das eben so."

"Nein, Jeno! Du kannst doch nicht dein Leben aufgeben–"

"Tu ich nicht. Du hast doch meine Erinnerungen."

Jaemin schluchzt. "Wie kannst du das einfach so akzeptieren?"

"Ich liebe dich." Jeno stupst ihn an, und es reicht, dass er ins Kissen zurückfällt, den Älteren über sich. "Und ich will mit dir zusammen sein. Ich will dein Leben etwas schöner machen. Und was sind schon achtzehn Lebensjahre, wenn ich kein weiteres mit dir erleben darf?"

"Du bist so ein Idiot", schluchzt Jaemin, "in Büchern hasse ich Typen wie dich."

Jeno lächelt. "Ich weiß. Aber ich mag sie. Weil sie bereit sind, für jemanden alles aufs Spiel zu setzen, alles zu verlieren. Weil ohne ihn alles sinnlos ist."

"Und wenn er sein Leben nicht aufs Spiel setzen soll? Weil es sonst jemanden gibt, der auch keinen Sinn mehr sieht?"

"Dann überlebt er halt." Jeno haucht einen Kuss auf Jaemins Hals, aber ihm reicht es nicht, er zieht seinen Kopf hoch und vor seinen, küsst ihn fast gewaltsam, verzweifelt.

"Ich will dir das nicht antun", flüstert Jaemin.

"Ich weiß, mein Engel. Aber ich nehme das in Kauf, wenn ich nur dann bei dir sein kann."

"Das solltest du nicht."

"Du glaubst nicht, wie egal mir das ist."

Ein sanfter Kuss erstickt Jaemins Protest.

"Du Idiot", wispert er, "du verdammter Idiot. Ich liebe dich so sehr."

"Ich dich auch, bunny. Und du musst mich nicht verstehen, aber es akzeptieren. Okay?"

"Als könnte ich ohne dich leben."

"Siehst du." Jenos Stimme ist so sanft wie seine Hand an Jaemins Seite. "Was bin ich schon ohne dich?"

Besser dran, will Jaemin sagen, aber Jenos Lippen lassen ihn nicht.

Sie machen einen Spaziergang, um darüber zu reden. Letztendlich wird es aber noch viel mehr als das, bis Jaemins Jacke zu dünn ist und er sein Zittern nicht mehr unterdrücken kann. Sofort steuert Jeno also den kürzesten Weg nach Hause an, legt Jaemin seinen Mantel um die Schultern, als sie durch die Tür sind. Zwei Tassen Tee später sitzen sie in seinem Zimmer, Jaemin ist wärmer, Jeno hält seine kalten Finger fest, streicht über sie. Es beruhigt ihn, und seine Angst hat sich mittlerweile etwas gelegt. Er ist sich immer noch unsicher darüber, was das jetzt für ihn bedeutet – aber Jeno ist immer noch so ruhig, also muss er es doch nicht schlimm finden.

"Oh mein Gott", sagt Jeno auf einmal, und Jaemin hebt seinen Blick von seinen Buchseiten, folgt besorgt Jenos Blick auf sein Handy gerichtet.

"Oh", entkommt es ihm leise. Er lehnt sich gegen Jeno, um den Bildschirm besser im Blick zu haben, und Jeno nimmt das Handy von der Matratze und hält es ihm hin.

"Renjun hat geschrieben, dass die Katze seiner Tante Junge gekriegt hat und sie für die jetzt ein Zuhause suchen."

Jaemin gibt ein Geräusch von sich, das am ehesten wohl als Quietschen zu beschreiben ist, und als er aufsieht, könnte Jeno schwören, sein Herz stoppen zu spüren. Aber wie könnte es auch nicht, bei Jaemins Welpenaugen, so groß und so niedlich.

"Du musst ihm welche abnehmen", er jammert beinahe, "sonst verzeih ich dir das nicht."

"Kannst du doch auch selbst."

Jaemin sieht ihn eine Weile entsetzt an, denkt dann darüber nach. "Meinst du?"

"Warum denn nicht?"

"Ich kenn seine Tante doch gar nicht."

"Ich auch nicht. Aber er hat uns das nicht geschickt, weil wir das nicht dürfen."

"Aber mir doch nicht."

Jeno hält ihm sein Handy hin, liest Renjuns Nachricht vor. "Jeno, frag Jaemin auch mal. Wenn das dich nicht dazu berechtigt, weiß ich auch nicht."

Jaemin friemelt an Jenos Ärmel herum. "Und er sagt das nicht nur, weil ich gerade bei dir bin?"

"Das weiß er doch überhaupt nicht."

"...Dann muss ich Eomma fragen." Er greift nach seinem Handy, schreibt seiner Mutter, während Jeno das Chaos in dem Gruppenchat schmunzelnd verfolgt.

"Sie denkt darüber nach", murmelt Jaemin, fast schon enttäuscht.

"Ich krieg Ji dazu, mit mir Eomma und Appa zu überreden, und so oft wie du hier bist, ist es dann auch deine Katze."

Jaemins Augen werden schon wieder so groß, Jeno könnte ausflippen. "Ehrlich?"

"Natürlich."

Er schlingt seine Arme um den Älteren. "Danke", nuschelt er in dessen Schulter.

Jeno drückt ihm einen Kuss auf den Haaransatz. "Schon gut. Ich bring dich nach Hause, ja?"

Jaemin nickt. "Ich liebe dich."

"Ich dich auch", lächelt Jeno, schiebt ihn sanft von sich und küsst ihn.

28.11.2020

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