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Noch mit nassen Haaren kauert Jaemin sich zu Jeno auf den Boden, wird von diesem an sich gezogen und genießt seine Wärme, Nähe. Jeno fährt durch seine nassen Strähnen, drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

"Verbände?" Jaemin nickt leicht, will aufstehen, aber sein Kreislauf schickt ihn zurück auf Jenos Schoß.

"Langsam, bunny." Jeno steht gleichzeitig mit ihm auf, stützt ihn, als er wieder ins Schwanken kommt. Erst als Jaemin sicher ist, lässt Jeno ihn los, um die benötigten Sachen aus dem Schrank zu holen.

"Dir steht der Hoodie", lächelt Jeno, während er das weiße Material um Jaemins Unterarme bindet, und der Jüngere sieht auf seine Füße hinab, traut sich nicht, etwas zu sagen. Er ist immer noch so müde, so kaputt, eigentlich möchte er den ganzen Tag und länger schlafen, auch wenn er weiß, dass das daran nichts ändern wird.

"Danke", flüstert Jaemin, als Jeno seine Ärmel vorsichtig herunterzieht und die Sachen zurückräumt, und als er zurückkehrt, drückt er Jaemin einen Kuss auf die Stirn.

"Gehen wir essen?" Ein Nicken. "Und du trinkst auch was, ja?"

"Okay", murmelt Jaemin, nimmt Jenos Hand, als dieser sie ihm entgegenhält, und sie gehen die Treppe hinunter. Jeno setzt Jaemin auf der Arbeitsfläche ab, bevor er sich mit ihrem Frühstück beschäftigt, Jaemin sieht ihm nur dabei zu, wenn er nicht in Gedanken versunken ist, und Jeno stellt sich lediglich neben ihn, als sie essen.

"Wir müssen gleich los, oder?" Jaemin nickt, das erste Mal nicht davon begeistert, zum Buchladen zu müssen. "Bunny, wenn es wirklich so schlimm für dich ist, zu Hause zu sein, musst du dir etwas überlegen, wie es wenigstens auszuhalten ist."

"Und was?"

"Das weiß ich nicht. Aber ich will nicht, dass du noch einmal versuchst, mich dich nicht mehr von Sterben abhalten zu lassen."

Jaemin schluckt, sieht weg. Er schafft es nicht, das weiß er, er ist ja kaum in der Lage, aufzustehen, die Tage einigermaßen zu überstehen. Wie soll er es da noch schaffen, sich darum zu kümmern, sich wohlzufühlen, wenn allein das Überleben ihm schon so schwer fällt?

"Wenn dir etwas einfällt, bunny", sagt Jeno leise, "und ich dir dabei helfen kann, sag mir Bescheid."

"Okay."

Wohl die erste Lüge, die Jeno von Jaemin erhält.

Juhyun wirft Jaemin geradezu raus, als er nach zwei Stunden mehr Fehler gemacht hat als an all seinen Arbeitstagen zuvor. Anfangs wehrt er sich noch, will um keinen Preis nach Hause, aber er kommt nicht gegen sie an, wo ihm doch sowieso so sehr nach einem Tränenausbruch ist. Also zieht er Jeno mit sich aus dem Laden, bemüht, nicht zu weinen, aber sobald sie draußen sind, hält Jeno ihn auf, weiterzugehen, sieht ihn an, und sofort drücken Jaemins Tränendrüsen den Startknopf.

"Ich will nicht nach Hause", bringt er hervor.

"Wir müssen doch noch gar nicht zu dir. Du hättest erst in drei Stunden Schluss, so lange können wir uns auch noch Zeit lassen." Jaemin wimmert lediglich leise, also zieht Jeno ihn in eine sanfte Umarmung.

"Ich will nicht zurück."

"Kannst du mit deinen Eltern über dein Ausgehverbot sprechen? Glaubst du, sie lassen mit sich verhandeln?"

"Ich weiß nicht."

"Kannst du es versuchen?"

"Keine Ahnung."

"Wenn du dich traust und denkst, dass du es schaffen kannst, tu das. Wenn es nicht klappt, überlegen wir uns etwas. Ich lass dich nicht noch einmal so lange in ihrer Macht. Wir werden etwas finden."

Wieder kann Jaemin eine ganze Weile nicht aufhören zu weinen, fühlt sich langsam ausgetrocknet von den vielen Tränen. Jeno trocknet seine Wangen und küsst ihn, ehe er ihre Finger verschränkt und ihm etwas zu trinken kauft.

Sie schlendern noch eine Weile durch die Stadt, bis Jaemin sich unwohl fühlt, und kehren dann zu Jeno zurück, bleiben dort, bis Jaemin nach Hause muss, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubt. Dass Jeno ihn bringt, macht es etwas besser, aber nicht ausreichend, als dass es gegen seine Übelkeit, Bauchschmerzen helfen könnte, doch wenigstens hält es ihn davon ab, sich tatsächlich zu übergeben.

Sie schweigen die meiste Zeit, und wenn nicht, ist es hauptsächlich Jeno, der etwas sagt, Jaemin ist einfach viel zu unruhig dafür.

An der gleichen Stelle, an der er ihn auch am Tag zuvor aufgehalten hat, hält Jeno nun auch Jaemins Handgelenk fest, begegnet seinen erloschenen Augen.

"Ich bin für dich da, Jaemin. Es gibt keinen Grund, mich nicht um Hilfe zu bitten."

Jaemin sieht zu Boden, antwortet nicht, Tränen treten in seine Augen, schnüren seinen Hals zu. Jenos Finger schieben sich zwischen seine, ziehen ihn sanft weiter, und mit jedem Schritt wächst Jaemins Angst, sodass er einige Meter vor seiner Haustür nicht weiterlaufen kann, wie festgefroren stehen bleibt.

"Bunny."

"Nein."

"Ich weiß, dass es dir schwer fällt, aber du musst weiter. Sonst wird deine Mutter noch wütend."

"Ich kann nicht."

"Du kannst. Ich weiß, dass du das kannst. Ein Schritt nach dem anderen, Engel. Egal, wie klein. So lange du weitergehst."

Auch wenn er sich zwingt, kostet es Jaemin massig Überwindung, und er bemerkt die Tränen auf seinen Wangen nicht einmal.

Bald ist die Haustür erreicht, Jenos Klingeln bleibt unbeantwortet, und Jaemin fällt ein riesiger Stein vom Herzen, während Jeno aufschließt und ihn vorsichtig mit sich zieht. Auf der anderen Seite der Tür legt er seine Arme um den Jüngeren, streicht über seinen Rücken, bis sein Zittern abschwächt.

"Du hast es geschafft, bunny", flüstert Jeno. Jaemin wäre es lieber gewesen, wenn nicht.

"Kannst du bleiben?", wispert er in Jenos Schulter, die Augen geschlossen, versuchend, halbwegs Ruhe zu finden.

"Bis deine Eltern mich rauswerfen oder meine wollen, dass ich nach Hause komme." Jaemins erleichtertes Seufzen ist leise und doch so deutlich. Langsam wünscht Jeno sich nichts mehr, als dass sich endlich etwas ändert an der Beziehung zwischen ihm und seinen Eltern.

Sie machen sich auf den Weg in Jaemins Zimmer, setzen sich auf sein Bett, und nach einer Weile legt Jaemin sich hin, den Kopf auf Jenos Bein gebettet, die Augen geschlossen, worauf der Ältere beginnt, durch seine Haare zu streichen.

"Wann soll ich morgen herkommen?", fragt er leise.

Jaemin wünschte, er wäre nie wieder weg.

30.07.2020

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