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tw: selfharm

Jaemin kann spüren, wie ohne Jeno seine Fähigkeit zurückkehrt. Stärker wird. Schlimmer wird. Schlimmer als sie es am Anfang war.

Seine Mutter lässt ihn am Samstag nicht arbeiten, er kann sie nur dazu überreden, dorthin zu fahren, damit Juhyun darüber Bescheid weiß, denn telefonieren lässt sie ihn auch nicht, geschweige denn an sein Handy. So kann er auch eine Notiz für Jeno hinterlassen, der nur eine knappe Stunde nach Jaemins Besuch vorbeikommt – und schon beim Betreten des Buchladens weiß, dass er gleich wieder gehen kann, so wie Yerim ihn ansieht. Mit dem Zettel von Jaemin in der Hand kommt sie zu ihm, bedrückt, fast traurig.

"Er ist mit seiner Mutter hergekommen", sagt sie, "und er hat nichts angefasst, niemanden angesehen, er stand einfach nur da und hat erst etwas gesagt, als Juhyun-eonnie mit ihm nach hinten gegangen ist, und dann auch nur, was auf dem Zettel stehen soll."

Die Adresse der Schule und wann er dort seinen Probetag hat.

Letztendlich weiß Jeno nicht mehr zu tun, als an dem Freitag dort aufzutauchen.

Er sitzt lange nur vor dem Schulhof, ist viel zu früh angekommen, doch bemerkt er Jaemin sofort, als er allein auf den Hof tritt, in die Schülermengen hinein, und Jeno folgt ihm, spürt wie der Jüngere die vielen Blicke auf sich.

Und Jaemin spürt ihn. Erfährt jeden Menschen um sich herum und somit auch Jeno.

Er schwankt, bleibt stehen, dreht sich um. Schon steht Jeno bei ihm, sie sehen sich nur kurz an, bevor sie sich umarmen. Fest, und es ist Jaemin so vertraut, dass ihm Tränen in die Augen steigen.

"Hallo bunny", flüstert Jeno, treibt ihn noch näher an den Tränenausbruch. "Appa würde heute Nachmittag vorbeikommen. Ohne mich, aber wir sehen uns ganz bald wieder, okay?"

Jaemin bebt am ganzen Körper, nickt. Er klammert sich an Jeno, will ihn nicht loslassen, bloß nicht loslassen, sonst ist er gleich wieder weg.

"Du musst rein, bunny." Nein. "Ich geb dir mein Handy. Jieun bleibt heute zu Hause und ich werd mich zu ihr gesellen. Schreib, wann immer du kannst. Und bitte, bunny, egal was kommt, du musst nichts tun außer weiterzuleben. Schaffst du das?" Wieder nur ein Nicken. Selbst ohne die Nässe an seiner Schulter wüsste Jeno, dass Jaemin weint. Ist es ihm zu verübeln? Wo er durch das Verändern seiner Fähigkeit dachte, er sähe Jeno nie wieder? Das unbeschreibliche Gefühl, das sich seitdem in ihm ausgebreitet hat, ist auf einmal weg, er ist wieder nur noch so schwer wie vorher, die Menschen sind aus seinen Gedanken verschwunden.

Es ist wieder nur Jeno.

"Wir werden angestarrt, oder?" Jaemins Stimme ist brüchig, zittert.

"Sollen sie doch starren." Jeno schiebt ihn von sich weg, nicht weiter als nötig, um die Tränen von seinen Wangen zu wischen. "Da sie eh schon alle gucken, kann ich dich küssen?"

"Nachher komm ich in eine Klasse und das Erste, was ich höre, ist 'Bist du nicht der, der heute Morgen den anderen Jungen geküsst hat?'"

"Du siehst ja eh keinen von denen wieder. Das verspreche ich dir."

"Dann darfst du."

Besonders nach so langer Zeit sind Jenos Küsse überwältigend, Jaemin wird beinahe schwindelig, er muss sich an seinem Freund festhalten, hat auf einmal alles vergessen, da ist nur Jeno. Jeno und Jeno und Jeno und Jeno.

"Und jetzt, bunny", flüstert der, "gehst du da rein, damit du nicht zu spät bist."

"Bringst du mich noch zum Sekretariat?" Auf einmal ist er wieder da, der ängstliche Jaemin von vor vielen Monaten. Nur dass er jetzt jemanden hat, der ihm helfen kann.

Jeno antwortet nicht, nimmt nur seine Hand und zieht ihn sanft in Richtung Schulgebäude, liefert ihn sicher bei der Sekretärin ab und platziert noch einen Kuss auf Jaemins Stirn, bevor er wieder nach Hause geht.

Da Jaemin nur am Vormittag am Unterricht teilnimmt, schreiben sie währenddessen in den Pausen und danach fast die ganze Zeit, denn Jaemin wurde von seiner Mutter lediglich nach Hause gebracht und ist nun allein, kann also Jenos Handy nutzen, ohne Angst zu haben, dass seine Eltern ihn unterbrechen könnten.

Jaemin schreibt ganze Romane, Jeno antwortet ebenfalls mit ewigen Texten. Hauptsächlich über das, was bei Jaemin die letzten Tage passiert ist. Und in seinem Kopf ist das ganz schön viel.

Allein dass seine Fähigkeit sich wieder verschlimmert hat, war die ganze Zeit Grund genug für schlechte Laune, aber da es nicht das einzige Problem war, ist es wohl wenig überraschend, dass Jaemin schon wieder in ein Loch gerutscht ist, aus dem Jeno ihn nun aber geradezu herauskatapultiert hat. Nicht vollständig, bei Weitem nicht, aber Jaemin sieht wieder Licht.

Natürlich sind seine Arme nicht unberührt geblieben, aber er hat das getan, worum Jeno ihn gebeten hat; die Schnitte vernünftig zu versorgen. So gut es ging zumindest, aber das reicht Jeno schon. Er ist bereits erleichtert genug, dass Jaemin überhaupt noch da ist und auch anwesend.

Vollständig werden Jaemins Erzählungen nicht, zum einen, da seine Eltern nach Hause kommen, zum anderen, da Jenos Vater sich auf den Weg zu ihm macht.

Und dann ist ewige Funkstille.

Ohne sein eigenes Handy weiß Jeno nichts mit sich anzufangen, liegt nur in seinem Zimmer und starrt an die Decke, da Jieun ihn verscheucht hat, bevor sie ihm die Augen auskratzen kann. Denn wenn Jeno eines ist, dann nervig, wenn er sich Sorgen um Jaemin macht. Pausenlos redet er, nicht einmal im Zusammenhang, nicht einmal über Jaemin, einfach irgendwelches Zeug, das ihm einfällt. Jieun hört ihrem Zwillingsbruder gern zu – aber nach einer Stunde sinnlosem Gequassel geht es sogar ihr auf den Geist.

Jeno hat gerade eine Beschäftigung gefunden, die ihn nicht alle zwei Sekunden an Jaemin erinnert, als Jieun in sein Zimmer kommt und sich auf seinem Bett breitmacht, bis er sich endlich zu ihr umdreht.

"Jaemin hat geschrieben."

"Das sagst du mir jetzt?!" Sofort ist Jeno aufgestanden und hat sich zu ihr gesetzt.

"Hey, er hat eben noch nur getippt, ja!" Sie hält ihm ihr Handy hin, er hat es ihr sofort aus der Hand genommen und den Chat geöffnet.

Ich kann dir dein Handy gleich zurückgeben

"Er kommt her...?"

13.08.2020
nana💓

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