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tw: selfharm

Zwei Wochen nach Jenos Geburtstag traut Jaemin sich das erste Mal, seine Mutter zu fragen, ob er auch in ihre Wohnung ziehen kann. Er besucht sie das erste Mal dort, sie hat erst eingewilligt, als keine Kartons mehr herumstanden.

"Glaubst du nicht, dass du bei Jeno besser aufgehoben bist?"

Jaemins Finger klammern sich fester an der dampfenden Teetasse fest. "Ich dachte nur... Ich meine, du bist immer noch meine Mutter, und theoretisch muss ich noch bei dir wohnen..."

"Das kannst du auch. Das wäre schön. Aber ich glaube nicht, dass ich für dich sorgen kann. Ich bin meistens genau dann zu Hause, wenn du in der Schule bist. Ich kann nicht für dich kochen, dir nicht bei deinen Hausaufgaben helfen. Du bist bei Jeno einfach... sicherer. Dein Umfeld ist stabiler. Und ich glaube, dass du das brauchst."

"Ich kann das wohl selbst am besten wissen."

"Tust du. Ich sage nur, was ich davon denke. Dich hierzuhaben, wäre schön. Aber du musst jetzt wieder mehr allein machen."

Jaemin trinkt einen Schluck der eigentlich viel zu heißen Flüssigkeit. "Kenn ich doch schon."

"Du könntest es aber auch leichter haben. Für dich selbst schöner."

"Und... wenn ich nach der Schule mit zu Jeno gehe und... abends, also sozusagen nur zum Schlafen, herkomme...?"

Sie lächelt leicht. "Bist du auf jeden Fall besser dran."

"Ist das ein Ja...?"

"Wenn du das möchtest, natürlich. Wir brauchen nur Möbel für dich."

"Sind meine alten noch ...da?"

"Das denke ich. Wir müssen nur an sie herankommen." Auch seine Mutter nimmt nun einen Schluck aus ihrer Tasse. "Lass uns das die Tage klären, ja? Der Anwalt war doch der Vater deines Freunds, oder?"

Dein Freund. Jaemin ist so erleichtert, es ohne Wertung, gar freundlich, aus ihrem Mund zu hören.

"Ja. Er hat mir auch schon wieder mehrmals geholfen."

"Dafür muss ich mich irgendwann noch bei ihm bedanken." Sie kratzt sich am Kopf. "Vielleicht besprichst du das mit ihm. Magst du mir noch etwas über Jeno erzählen?"

"Warum?", fragt Jaemin zögerlich.

"Ich möchte wissen, wer meinem Sohn wieder die Sonne gezeigt hat. Außerdem ist er dein Gegenstück, oder nicht? Ich werde ihn wohl für den Rest meines Lebens an deiner Seite sehen."

Er senkt den Kopf, ignoriert das Hitzegefühl in seinen Wangen. "Das wäre schön..."

Er erzählt Jeno davon, sobald er wieder bei ihm ist.

"Das ist toll, bunny, das ist wirklich toll."

Jaemin nickt, ein Lächeln erscheint auf seinen Lippen. "Ich glaub, ich freu mich drauf."

"Noch besser." Jeno schlingt seine Arme um ihn und Jaemin schließt seine Augen, um sich auf ihn zu konzentrieren – er hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, kaum noch etwas zu erspüren. "Geht's ihr denn gut?"

"Sie hat nichts Gegensätzliches gesagt. Sie kann nur immer noch nicht arbeiten."

"Das ist blöd." Jeno schiebt ihn vorsichtig von sich, mustert ihn leicht. "Wann kann sie wieder?"

"Keine Ahnung. Hab nicht gefragt."

"Und wie geht's dir?"

"Ist okay. Ich freu mich drauf, auch wenn ich nervös bin."

"Und abgesehen von deiner Mutter?"

Jaemin zögert, sieht weg. "Ich komme klar."

"Gerade so oder gut?"

"Irgendwo dazwischen."

"Wie geht's deinen Armen?"

"Alles okay."

Jeno platziert einen Kuss auf seiner Stirn. "Okay."

Und es stimmt. Seine Arme sind unberührt. Denn die könnte Jeno sehen. Auf seinen Oberschenkeln sieht es anders aus. Seinem Bauch. Seinem Becken. Die Schnitte sind nicht tief. Es sind nicht viele. Aber sie sind frisch.

Jeno bemerkt es. Natürlich bemerkt Jeno es. Aber Jaemin wünschte, er täte es nicht.

"Gibt es einen Grund?", fragt er leise, zu Jaemin aufsehend, denn er sitzt auf seinem Bett und hat den Jüngeren zwischen seine Beine gezogen, sein Shirt hochgehoben, um die Ausmaße einschätzen zu können. Er merkt, dass Jaemin sich anspannt, aber er muss es wissen.

"Nein." Und es ist die Wahrheit.

"Okay." Jeno lässt ihn los, und Jaemin nimmt sofort Abstand, schlingt die Arme um sich.

Stille, in der sie sich ansehen, Jaemin mit Angst, Jeno mit Ruhe.

"Ich liebe dich", sagt Jeno. Der Jüngere sinkt auf den Fußboden, kauert sich zusammen, versteckt sich vor ihm.

"Ich dich auch", hört Jeno ihn flüstern. "Es tut mir leid."

"Du hast mir nichts getan, bunny."

"Ich hab dich angelogen. Ich belaste dich."

"Das tust du nicht. Und ja, du hast es mir verschwiegen, aber das ist okay. Wenn du mir das nicht sagen willst, dann machst du es eben nicht. Es ist dein Körper, deine Entscheidung. Keine, die ich befürworte, gut finde, aber deine. Und die musst du nicht mit mir teilen."

Zitternd sieht Jaemin auf, obwohl ihm warm sein sollte, sieht Jeno flehend an, bringt kein Wort hervor. Sein Freund steht auf und setzt sich neben ihn, nimmt ihn vorsichtig in den Arm, als Jaemin sich gegen ihn lehnt.

"Es ist okay, Baby", sagt Jeno leise, "bitte hab nicht meinetwegen Schuldgefühle."

Jaemin nickt nur leicht, krallt sich in Jenos Hoodie. Der Ältere platziert einen Kuss auf seiner Schläfe, streicht über seine Seite. Sie bleiben in stiller Zweisamkeit sitzen, bis Jaemin wieder ruhig ist und darüber hinaus.

"Bald sind Ferien", flüstert Jeno, "dann können wir alles machen, was du willst. Es ist nur noch dieses Schuljahr. Dann kannst du hin, wo du willst."

"Kommst du mit?", fragt Jaemin, zart, zerbrechlich.

"An jeden Ort."

31.10.2020

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