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"Du kannst mir immer alles erzählen." Etwas besorgt sieht Jeno ihn nun doch an, schließlich ist es das erste Mal, dass Jaemin das freiwillig vorhat.

"Du... wirst aber denken, dass ich... verrückt bin."

"Nein. Niemals könnte ich dich für verrückt halten."

"Das sagst du mir jetzt noch", flüstert Jaemin. Er wird wieder nervös, und das so extrem, dass Jeno es bemerkt.

"Jaemin, komm her." Er klopft neben sich auf die Bettdecke. "Es ist alles okay. Mach dir keinen Kopf und sag mir, was los ist." Jaemins zitternde Finger umschließen seine Wasserflasche, ehe er Jenos Bitte nachkommt. Er kann ihn nicht ansehen und weiß doch, dass Jeno ihn besorgt mustert.

"Du wirst mir nicht glauben."

"Sag's mir einfach, Jaemin. Denk nicht darüber nach, raus damit."

Einmal holt er noch tief Luft. "Ich sehe dein Leben", platzt es dann aus ihm heraus, "wenn ich dich ansehe oder berühre, kenne ich deine Kindheit. Das ist bei jedem so. Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft kann ich spüren, weiß, wann jemand stirbt, wann ich ihn das letzte Mal sehe, das alles. Von Menschen und Tieren und Gegenständen, einfach allem. Ich weiß nicht warum, ich hab's von meiner Mutter, aber bei ihr ist es viel schwächer mittlerweile, ich meine, ich brauche manchmal sogar die Dinge nur anzusehen und weiß, wie viele Jahre sie noch halten, und sie hat das fast nie, nur wenn sie es will, sich konzentriert, nie dieses Flüchtige, aber ich hab es immer und deswegen will ich nicht, dass du mich anfässt, und deswegen habe ich nicht mit dir geredet, weil ich wollte, dass du mich in Ruhe lässt, aber weißt du, du bist der Einzige, bei dem ich nur die Vergangenheit sehe. Ich meine, bei meinen Eltern ist das auch so, weil ihre Leben quasi mit meinem verwoben sind, meines sehe ich nämlich überhaupt nicht, aber bei dir versteh ich das nicht, bei ihnen weiß ich nämlich, wann sie sterben, und bei dir nicht, und das ist so komisch, weil ich nicht weiß, warum nicht, und ich– ich hasse das so sehr, ich will so nicht sein, aber ich kann es ja nicht einmal unterdrücken oder ignorieren, es ist die ganze Zeit da, und und und–" Jaemin presst seine Lippen aufeinander und fummelt nervös an dem Flaschendeckel herum.

Eine ganze Weile sagt Jeno nichts. Dann streckt er seine Hand aus, und Jaemin sieht fragend zu ihm hoch.

"Kannst du es mir zeigen?" Neugier steht in Jenos Augen, kein Spott, kein Amüsement, keine Missgunst. Also legt Jaemin zögerlich seine Finger auf Jenos und sofort weiß er wieder alles, was er schon die letzten Tage immer gewusst hat, egal, wie oft er es aufgeschrieben hat.

"Von... von wann willst du...?"

Jeno überlegt kurz. "Mein Grundschulabschluss." Also durchforstet Jaemin seine zahlreichen Erinnerungen und findet nach einer Weile die richtige. "Wer sitzt neben mir?", ergänzt Jeno noch. "Wer war mein Klassenlehrer?"

"Choi Eunhyuk und Kim Soobin. Deine Klassenlehrerin war Kim Soyeon, sie unterrichtet Mathe, Sport und Englisch."

"Das ist genial", flüstert Jeno. "Das ist unglaublich, Jaemin. Gibt es irgendeinen Grund, wieso du das kannst?"

Er zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung, ob meine Großeltern es hatten, vielleicht meine Oma, ich weiß es nicht. Meine Mutter hat es mir zumindest nie gesagt. Aber ich– ich habe auch lange nicht mehr mit ihr geredet."

"Wieso nicht?"

"Ich weiß, wann sie stirbt. Ich weiß, warum. Ich weiß so vieles, was sie nicht weiß, und bei meinem Vater genauso, ich will das nie wieder sehen. Ich habe es aufgeschrieben, ich bin es los, ich will es auch nicht zurückhaben. Nicht von meinen Eltern. Bei jedem ist es mir egal, aber das, das tut einfach weh."

Jeno weiß nicht, was er dazu sagen soll. "Danke, dass du mir das anvertraust", flüstert er. "Ich kann dir nicht helfen und weiß auch nicht, was ich sagen soll, aber ich unterstütze dich trotzdem, wenn es irgendetwas gibt, wobei ich dir helfen kann. Und ich glaube dir, Jaemin, wenn das noch nicht klar war. Ich halte dich nicht für verrückt, ich bin nur sprachlos."

Jaemin treten Tränen in die Augen. "Danke", flüstert er.

Plötzlich hält Jeno inne. "Du kennst meine Gegenwart auch, richtig?"

"Nein. Also, so teilweise. Manchmal erfahre ich ganz kleine Ausschnitte, eine Emotion oder so, aber mehr nicht."

"Okay." Es erleichtert Jeno – das wäre es jetzt noch, wenn Jaemin wüsste, was er für ihn fühlt.

"Wieso?", fragt der Jüngere leise, unsicher nach.

"Nur, nur weil du meintest, dass du meine Zukunft nicht kennst, und, da dachte ich halt, also, ich hab mich gefragt, ob du meine Gegenwart auch nicht kennst." Jaemin nickt nur und sinkt im nächsten Moment auf die Seite, was Jeno einen halben Herzinfarkt einjagt, aber er sieht weiter auf seine Wasserflasche. Kurzerhand legt Jeno sich auf den Bauch und ist somit direkt vor ihm, lächelt leicht, als Jaemin ihn fragend ansieht.

"Was denn?" Jeno stützt sich auf seinem Arm ab, mustert ihn.

"Du... hast nichts vor?"

"Was sollte ich vorhaben?" Jaemin zuckt mit den Schultern und dabei bleibt es.

Sie schweigen, Jeno sieht ihn weiter an, während Jaemin wieder wegsieht – so lange kann er es dann doch noch nicht aushalten. Stattdessen spielt er wieder mit dem Deckel seiner Flasche.

"Reicht es, wenn unsere Arme sich berühren, oder müssen es unsere Hände sein? Oder musst du einfach nur jemanden anfassen?"

"Es ist deutlicher, wenn es meine Finger sind. Es funktioniert auch einfach so."

"Nur bei Hautkontakt? Von Kleidung kriegst du doch auch ganz viele Informationen, oder?"

"Du bist am Schulfest ja in mich hineingerannt", Jaemin sieht nur kurz auf und spürt trotzdem Jenos Schuldbewusstsein, "und da hab ich ganz viel gekriegt. Als du mich an meinem Handgelenk festgehalten hast, war es viel weniger. Es kommt auf die Stärke des Kontakts an."

"Das Hineinrennen war weniger als die Umarmung heute Morgen, oder?"

Jaemin nickt. "Aber das war ja auch kürzer."

Jeno mustert ihn nachdenklich. "Macht es einen Unterschied, ob ich es bin oder jemand anders? Also, abgesehen davon, dass du bei mir meine Zukunft nicht siehst."

Darüber muss Jaemin nachdenken.

"Ja", sagt er schließlich. "Dein Leben ist... intensiver. Als wäre ich wirklich dabei, manchmal. Ich kann nichts von dir vergessen. Also, normalerweise mache ich das immer so, dass ich aufschreibe, was ich erfahre, und dann erst vergess ich es. Aber bei dir klappt das nicht, es wird nur ...schwächer."

"Bei deinen Eltern klappt es?" Jaemin nickt. Was das aber bedeutet, dass das bedeutet, dass Jeno in seinem Leben die wichtigste Rolle spielen wird, das wäre beiden nicht im Traum eingefallen.

28.06.2020

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