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Es ist wenig überraschend, dass Jaemin plötzlich zu weinen anfängt. Es bricht einfach so aus ihm heraus, er merkt es vorher nicht einmal, und dann kann er es nicht stoppen. Gut also, dass er schon an Jeno gekuschelt ist, fragen könnte er ihn in dem Zustand nicht.

"Was ist los?", fragt Jeno leise, besorgt, seine Hand wandert durch Jaemins Haare.

"Ich bin nur... Ich hab seit Ewigkeiten mit niemandem geredet oder jemanden aus eigenem Willen berührt oder– Das ist so unreal. Du bist unreal."

"Aber ich bin echt." Ein Schmunzeln sitzt in Jenos Mundwinkel, als Jaemin aufsieht. "Das kann ich dir versprechen."

"Das macht es ja so unreal."

"Keine Sorge, morgen küss ich dich immer noch."

Plötzlich wird Jaemin unsicher. Jeno legt den Kopf schief, sieht ihn fragend an.

"Auch... Auch in der Schule?"

"Das musst du entscheiden. Wenn es dir recht ist, ja."

"Kann ich gerade nicht drüber nachdenken."

Jeno wischt seine Wangen trocken. "Okay. Du kannst dir auch damit Zeit lassen. Bis dahin lassen wir es eben." Jaemin nickt nur. Dann sieht er Jeno mit großen Augen an und dieser muss lächeln, bevor er ihn küsst. Jaemin ist so einfach zu lesen wie ein Buch.

"Wenn du jetzt Menschen ansehen kannst, kannst du dich doch mit anderen anfreunden, oder?"

Angst überfällt Jaemin. "Lass mich nicht allein."

"Natürlich nicht. Aber ich will nicht der Einzige bleiben. Du hast mehr verdient als nur mich. Und um ehrlich zu sein warten fünf Leute darauf, dass ich ihnen erkläre, warum ich so an dir klebe." Auch wenn sie es andersherum gesagt haben.

"Deine Freunde?" Jeno nickt. "Warum hast du ihnen das nicht schon gesagt?"

"Dafür bin ich viel zu sehr mit dir beschäftigt", lächelt er. "Außerdem weiß ich ja nicht, was sie wissen dürfen und was nicht." Und er hat insgeheim gehofft, dass sie zusammenkommen.

"Heißt das... du willst... dass ich es ihnen erkläre?"

"Wir. Du und ich. Damit ich nichts Falsches sage."

"O... O-Okay..."

"Wirklich?"

"I-Ich weiß nicht, ich kenn sie doch gar nicht..."

"Du kannst darüber nachdenken. So lange, wie du brauchst."

"Okay..."

Jeno beginnt, durch Jaemins Haare zu streichen, der Jüngere seufzt leise, Jeno kann spüren, dass er sich entspannt.

"Wann soll ich übermorgen zu dir kommen?"

"Übermorgen?"

"Zu deinem Geburtstag."

"Ach so. Weiß ich nicht. Willst du etwa einen Kuchen und ein Geschenk mitschleppen?"

"Wieso denn nicht?"

"Das ist so viel."

"Ich könnte dir noch viel mehr mitnehmen und es würde mich nicht stören."

"Na gut. Und deine Schwester will echt für mich einen Kuchen backen...?"

"Ja. Sie kennt dich vom Sehen und als ich ihr erzählt hab, dass du bald Geburtstag hast, und niemand mit dir feiert, hat sie erst sogar noch gewollt, dass du zu uns kommst und wir zusammen feiern."

"Zu... Zusammen?"

"Zu dritt oder mit meinen Eltern, keine Ahnung, ob die da sind."

"Aber... das ist doch nur mein Geburtstag..."

"Und Geburtstage feiert man. Wie lange hast du das nicht mehr gemacht?"

"Ich... glaub noch nie. Ich hatte doch in der Grundschule auch nur einen Freund."

Jeno seufzt leise. "Ich hol dich morgens ab, wir gehen die Bücher holen und dann zu mir, okay?"

"Wann ist morgens?"

"Gegen zehn?"

Jaemin nickt und vergräbt gleich wieder sein Gesicht an Jenos Brust.

"Unglaublich, dass du deinen Geburtstag nicht feierst", flüstert Jeno in seine Haare.

"Es ist doch nur noch ein Jahr, in dem ich alleine sein werde."

"Jetzt nicht mehr."

Ein Lächeln bildet sich auf Jaemins Lippen. "Jetzt nicht mehr." Kurz herrscht Stille. "Also feiern wir jetzt öfter?", fragt er zaghaft.

"Wenn du das möchtest, natürlich." Ein kurzes, heftiges Nicken, und lächelnd schlingt Jeno seinen Arm um ihn.

Beide schlafen sie ein, ohne es zu merken.

Am nächsten Tag sehen sie sich nicht, und Jaemin wird ungefähr ab mittags unglaublich aufgeregt. Nicht nur, dass es sein erster Geburtstag mit einem Freund ist, seit er sich erinnern kann, es ist auch noch sein fester Freund sowie dessen Schwester. Das ist zwar irgendwie seltsam für ihn, schließlich kann er nicht verstehen, wieso sie das tut, besonders, da sie sich noch überhaupt nicht kennen, und außerdem haben Geschwister doch ganz oft etwas gegen die Beziehung des anderen, oder etwa nicht?

Aber er freut sich trotzdem so sehr, dass er ewig nicht einschlafen kann und am nächsten Morgen seinen Wecker nicht hört.

Und so ist es seine Mutter, die Jeno die Tür öffnet.

Für eine Weile starren sie sich nur an, sie, weil sie sich fragt, ob sie sich das einbildet, dass dort ein Junge in Jaemins Alter steht und etwas von ihm wollen muss, er, weil er keine Ahnung hat, was er sagen soll.

"Ist Jaemin da?", bringt er schlussendlich leise hervor und hat gleich darauf wieder die Tür vor der Nase, blinzelt überrascht. Aber er hört sie Jaemins Namen rufen und etwas später auch Schritte auf der Treppe.

"Wer zum Teufel ist das?" Sie klingt geschockt.

"Ist es zehn? Dann ist es Jeno. Es ist zehn!"

"Stopp, hiergeblieben! Wer ist Jeno und was macht er hier?"

"Er ist mein Freund. Wir wollen Bücher kaufen."

"Dein... dein Freund-Freund?"

"Freund-Freund?"

"Seid ihr zusammen?"

"Ja."

Stille.

"Das hast du mir zu erklären, wenn du wieder zu Hause bist. Und jetzt machst du die Tür auf und sagst ihm, dass du verschlafen hast, das ist sonst unhöflich."

Ein Tapsen in Richtung Tür und ein verschlafener Jaemin steht Jeno gegenüber.

"Alles Gute zum Geburtstag", lächelt er. Ganz klein ist das Lächeln, das über Jaemins Lippen huscht.

"Kannst du warten? Hab verschlafen."

"Na klar. Lass dir Zeit, ich bleib hier sitzen."

"Okay." Aber Jaemin bleibt stehen und seine Augen schreien Jeno geradezu an.

"Darf ich?", fragt der also leise, Jaemin nickt, und Jeno küsst ihn sanft.

Er taumelt schon fast die Treppe hoch.

Und auch wenn er verschlafen hat und sich dafür echt schlecht fühlt, ist das Lächeln doch nicht aufzuhalten, schließlich ist Jeno hier und hat ihm als Erster gratuliert und wird den ganzen Tag bei ihm sein und ihm etwas schenken und überhaupt. Jaemin ist glücklich, so glücklich, dass er vergisst, ins Heft zu schreiben.

07.07.2020

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