Jaemin bleibt so unbeholfen, eine ganze Weile kann er kaum etwas Richtiges sagen, und auch wenn es Jeno nicht stört, wurmt es Jaemin sehr. Er merkt aber auch nicht, dass er es langsam versteht, langsam wirklich mit Jeno reden kann, was aber auch daran liegt, dass er sich viel mehr mit dem Gedanken beschäftigt, warum er Jenos Zukunft nicht sieht. Nicht einmal seinen Tod, den er selbst bei seinen Eltern sieht, wenn er sie jemals berührt. Und er versteht es nicht. Selbst bei kleinen Kindern, die länger leben werden als er selbst, erfährt er den Tag, an dem ihr Herz aufhören wird zu schlagen. Nur bei Jeno nicht. Seine einzige Vermutung: Sein Tod wird unmittelbar mit ihm zusammenhängen, ihn beeinflussen. Aber aus welchem Grund kann er sich nicht erklären.
Ein "Jaemin!" unterbricht seine Gedanken. Er bleibt stehen und hört Jeno auf sich zulaufen, lächelt fast, als er vor ihm steht. "Eine Sache, die du gestern gemacht hast."
"Ich... Ich hab gelesen..."
"Super. Welches Buch?"
"Das gleiche wie vorgestern."
"Wie viel fehlt dir noch?"
"Vier... Vier Kapitel."
"Wie ist es weitergegangen? Sind sie endlich angekommen?"
"Einer ist gestorben."
"Ernsthaft? Bitte nicht der mit dem coolen Hut."
"Der Forscher."
"Wie hat er das denn gemacht? Hat er sich selbst in die Luft gejagt?"
Jaemin lächelt ganz schwach. "Nein. Der mit dem Hut hat ihn vergiftet."
"Was?! Nein! Ist er nicht mehr gut?"
"War er nie."
Jeno schnappt erschrocken nach Luft. "Nie?! Das kann doch nicht gut ausgehen! Du musst mir unbedingt sagen, wie es geendet hat! Die müssen das schaffen!" Jaemin nickt. "Das hab ich dir verboten." Jeno schmunzelt.
"Ich sag dir, wie es endet."
"Na geht doch. Großartig, Jaemin! Das war eine richtige Konversation. Leihst du mir das Buch irgendwann aus? Ich will das lesen."
"Aber du weißt doch, wie es endet."
Jeno zuckt mit den Schultern. "Ist mir egal. Also, da du nicht über das Wetter reden willst, und ich deine Lieblingsbücher kenne, was hältst du davon, wenn wir über Musik reden?"
Stattdessen fängt Jaemin an zu weinen.
"Was hab ich gemacht? Tut mir leid, nicht weinen."
"Nichts, ich–" Er schluchzt leise.
"Ich weiß, du magst es nicht, berührt zu werden, und wenn du Nein sagst, ist das okay, aber darf ich dich umarmen?" Jaemin zögert. Dann nickt er und sofort macht Jeno einen Schritt auf ihn zu, legt vorsichtig seine Arme um ihn, was ihn noch mehr weinen lässt. Er kann sich an seine letzte Umarmung nicht mehr erinnern, und in Jenos fühlt er sich so wohl, dass er sich wünscht, er ließe ihn nie wieder los. Zwar regnen Jenos Lebensjahre wie Steine auf ihn nieder, aber er hält ihn so sanft fest, streicht ganz leicht nur über seinen Rücken, dass das Schöne das Unangenehme mit Leichtigkeit übertrumpft. Jaemin vergräbt sein Gesicht an Jenos Schulter, nimmt seinen Geruch wahr, eine Mischung aus Waschmittel und Parfum, klammert sich an ihn.
"Du hast neulich gesagt, dass du noch nie geschwänzt hast", flüstert Jeno. "Dann machst du das heute das erste Mal." Jaemin will seinen Kopf schütteln, aber gleichzeitig will er sofort das Gebäude verlassen und nie wieder zurückkehren.
Bis er aufhört zu weinen, ist Jenos Hand schon zwischenzeitlich durch seine Haare gestrichen, bleibt hauptsächlich aber bei der anderen auf seinem Rücken. Als sie sich lösen, sieht Jaemin beschämt zu Boden, aber Jeno sagt nichts, gibt ihm nur eine Taschentuchpackung, bevor er ihm seine Hand hinhält, begleitet vom Klingeln.
"Wir gehen zu mir, wenn dich das nicht stört. Meine Eltern sind nicht da, selbst wenn meine Schwester da ist, interessiert es sie nicht." Jaemin nickt und Jeno lässt es ihm durchgehen, weil er seine Hand nimmt und sich mitziehen lässt, und das obwohl sein Kopf sich schon dreht vor lauter Jeno-Kindheit. Aber die warmen Finger sind es ihm wert, sie bieten ihm Sicherheit, egal was kommt.
Als sie bei Jeno ankommen, fühlt Jaemin sich dennoch erst einmal unwohl, seit Jahren war er nicht mehr woanders als zu Hause oder in der Schule, manchmal noch in Buchläden. Doch bei Jeno gefällt es ihm, und der Geruch ist ihm nicht neu, sodass er sich fast schon willkommen geheißen fühlt. Es ist dennoch seltsam, überhaupt hier zu sein, und dann auch noch während der Schulzeit, sodass er nur das tut, wozu Jeno ihn auffordert, und danach verloren in Flur herumsteht.
"Komm mit." Jeno lächelt sanft und Jaemin folgt ihm zögerlich die Treppe hoch und noch unsicherer in sein Zimmer, schließlich ist das für ihn selbst sein einziger Rückzugsort und er fühlt sich allein mit dem Gedanken unwohl, dass jemand anderes es betritt. Wenn dieser Jemand nicht gerade Jeno ist, aber daran denkt er nicht. Jeno scheint es nicht zu stören, ihn hierzuhaben, er bietet ihm sogar an, auf seinem Bett zu sitzen, aber Jaemin setzt sich stumm auf den Boden, sieht sich nur kurz um, blickt auf seine Hände.
"Was möchtest du machen?", fragt Jeno ihn.
"Lesen", erwidert Jaemin ehrlich. Es beruhigt ihn, und gerade ist alles in ihm in Aufruhr.
"Dann mach das."
"Und du?"
"Ich such mir eine Beschäftigung, alles gut. Mach dir um mich keinen Kopf."
Letztendlich ist seine Beschäftigung, Jaemin bei seiner zuzusehen. Wie ruhig er dort sitzt, wo er vorher noch so nervös war, völlig entspannt und mit seinen Gedanken ganz woanders. Er hört nicht, wie Jeno aufsteht, bemerkt erst, als er schon wieder auf dem Rückweg ist, dass er weg ist. Verunsicherung macht sich in ihm breit, doch Jeno betritt gleich wieder den Raum, schließt die Tür leise hinter sich. Er hat zwei Wasserflaschen mitgebracht, stellt eine vor Jaemin ab, setzt sich mit der anderen wieder aufs Bett. Zögerlich nimmt der Jüngere sie vom Boden und öffnet sie, ignoriert das Datum, das sofort in seinem Kopf auftaucht. Kurz sieht er Jeno beim Trinken zu, bevor er es ihm gleichtut und danach wieder zu Boden sieht. An sein Buch kann er gerade nicht denken.
"Jeno, kann... kann ich dir etwas erzählen?"
27.06.2020
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can't you see me? ❈ nomin ✓
Fanfiction𝙣𝙤𝙬 𝙥𝙡𝙖𝙮𝙞𝙣𝙜: can't you see me - txt 03:06 ────────────●─ 3:21 ⇆ㅤㅤ ㅤ◁ㅤㅤ❚❚ㅤㅤ▷ㅤㅤ ㅤ ㅤ↻ 𝙣𝙚𝙭𝙩 𝙛𝙧𝙤𝙢: 𝙙𝙖𝙣𝙘𝙞𝙣𝙜 𝙞𝙣 𝙩𝙝𝙚 𝙧𝙖𝙞𝙣 runaway - eric nam » Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, alles vereint in dem fast ach...