Haruko
Der Geruch einer neu angefangenen und das erste Mal geöffneten Zigarettenschachtel ist das Beste. Das, was ich jetzt brauche. Wenn man das erste Mal die Folie abmacht, die Pappe am eingeprägten Rand nach hinten klappt und 20 perfekte Zigaretten sieht. Frischer Tabak. Einfach wunderbar. Ich starre die Schachtel in meinen Händen eine Weile an und empfinde fast schon Mitleid, dass mein Drang eine von ihnen zu rauchen größer ist, als diese perfekte Ordnung zu genießen. So können auch wahrscheinlich nur Raucher denken. Fünf Minuten perfekte Ruhe und Frieden.
Das Restaurant und der Außenbereich in dem ich gerade sitze, werden immer leiser. Ich höre leise die Motoren der wegfahrenden Autos. Ab 18 Uhr hat hier eine geschlossene Gesellschaft reserviert, also verlassen immer mehr Besucher nach und nach das Restaurant, oder sitzen noch etwas zusammen bevor sie ihre Rechnung bezahlen. Nur noch etwas Ruhe, dann muss auch ich auch los. Raus, aus dieser Ruhe.
Ich habe nie über Harus Lebensweise nachgedacht. Ich wusste, dass er früher als Host gearbeitet hat. Ich wusste, dass er wahrscheinlich auch Trinkgeld bekam. Ich wusste, dass er sich und seine zwei Brüder, eine Wohnung und Schulkosten sowie Versicherungen finanzieren kann. Aber wie? Ich habe tatsächlich vergessen, wie es ist, alles selbst bezahlen zu müssen. In Kanada wurde mir alles gestellt. Genau wie jetzt in der Schweiz. Ich habe so viel Geld, dass ich nicht weiß, für was ich es ausgeben soll. Oder wann? Immerhin habe ich keine Zeit um tatsächlich auszugehen. Aber das habe ich mir selbst ausgesucht.
Ich hatte immer gedacht, Haru würde sein Leben genießen, würde eine Frau nach der anderen haben. War er nie mit jemanden zusammen, sondern hat die ganze Zeit auf Ren gewartet? Ich schüttele mich kurz.
Innerlich entscheide ich mich, die Schachtel Perfektion zu zerstören, nehme mir eine Zigarette und stecke sie mir an. „Hahhh...", entkommt es mir leise. Das tut wirklich verdammt gut.
Wie kann Haru es schaffen für sechs Personen Essen und Getränke zu bezahlen? In diesem Restaurant? Mal eben so? Immerhin wollte ich essen gehen, aber er reißt alles an sich und will uns einladen. Wer ist er denn eigentlich? Läuft sein Café so gut? White Fang. Hm. Ich muss fast schon auflachen. Ich habe ihm damals das Buch mit diesem Titel gekauft... Warum nennt er sein Café in Japan so?
Langsam lehne ich mich in meinen Stuhl zurück, schaue in die Baumkrone nach oben, die mir Schatten spendet. Wieder ein Kirschbaum. Eigentlich gefallen sie mir besser, wenn sie nicht blühen. Dichtes und saftig grünes Laubwerk. Viel besser als das pink. Viel besser als der wahnsinnige Dreck den die Bäume machen, wenn alle Blüten abfallen. Die Kehrmaschinen jeden Morgen, damit die Abflüsse nicht verstopfen. Der Lärm... Wenn man hier lebt ist der Zauber nur noch dünn, dennoch erwische ich mich mit einem Gefühl von Sehnsucht, wenn in der Schweiz mal hier oder da eine Zierkirsche oder eine Pflaume blüht. Ich inhaliere einen weiteren und so kräftigen Zug, dass sich meine Lungen schon fast anfühlen, als würden sie brennen. Auch so ein Zauber, den meine Intelligenz doch eigentlich neutraler bewerten müsste. Rauchen ist nun wirklich nicht das Gesündeste, was man in seiner Freizeit als Entspannung machen kann.
Geschäftsführer und Inhaber... Er hat Mitarbeiter. Er leitet eine Familie. Er ist erfolgreich und schafft es auch noch seine Zeit so zu managen, dass er auch noch Zeit für diese findet. Für diese Familie. Vielleicht hätte ich das auch gekonnt, wenn ich andere Wege gewählt hätte. Habe ich mich immer nur schlecht organisiert? Ich atme wieder ein und aus. Meine Gedanken sind so vielseitig und durcheinander. Es stehen mehrere Schubladen sperrweit auf. Mehr, als mir lieb sind.
„Nein nein, geh nur, ich warte hier. Wir drei können nachher zusammen fahren. Mikiko kann auch gar nicht warten und muss auch wieder los, sie hat noch einen anderen Termin, aber sie kann Aki und Shima Zuhause rauslassen." Ich drehe mich nicht um, sondern schaue weiter in die Baumkrone. Harus Stimme ist so leise und ruhig, das ich sie bestimmt überhören würde, würde sie nicht Vertrautheit in mir wecken und meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Natürlich organisiert er jetzt auch noch Fahrgemeinschaften. Er steht bestimmt in der Schiebetür zum Außenbereich.
„Haru hat dir noch einen kühlen Weißwein bestellt. Er sagte du magst ihn gerne.", setzt sich Ren zu mir an den Tisch.
„Wie kommen wir gleich nach Hause, wenn die anderen schon gefahren sind? Ihr seid doch eben alle in Mikikos Auto mitgefahren?", frage ich immer noch zurückgelehnt, versuche mich zu sammeln und mir nicht vorzustellen, wie meine Söhne Sex miteinander haben. „Mit dem Taxi..., wie ihr eben zum Restaurant.", antwortet er. Ich richte mich auf und schaue ihn an. Das war nun wirklich nicht monoton. Seine Antwort war innerlich nicht mit einem Punkt beendet, sondern sarkastisch und frech als rhetorische Frage. Wer bist du?
Eine Weile schauen wir uns an. Er hat ein Lächeln in den Augen. Es ist aber nicht mehr wie eben, als er mich das erste Mal sah. Oder das des kleinen Rens, der mich anhimmelt. Es ist erwachsen. Er weicht meinem Blick nicht aus. Er sitzt vor mir, erhobenen Hauptes, bringt mir Wein zum Tisch, schaut mich an.
„Es ist das erste Mal seit Ewigkeiten, dass wir zu zweit sind. Live.", sagt er plötzlich und lächelt auch mit seinen Lippen. „Ja.", sage ich zurück. „Über Skype ist es wirklich nicht das Gleiche.", füge ich nochmal hinzu und nippe an meinem Glas Weißwein. Haru... Richtige Temperatur, Richtige Rebsorte.
„Ich habe mich verändert.", spricht er ruhig. „Ja. Es wirkt, als hättest du mehrere Jahre einfach übersprungen. Du machst eine wahnsinnig schnelle Entwicklung durch. Wie 16 wirkst du eher nicht." Mist, meine Stimme klingt so falsch. So unpassend. „Gefällt dir das nicht?", fragt er mich weiter mit Pokerface. Ich spüre eine Röte in mir hochsteigen, aus welchen Gründen auch immer. „Es ist nur neu.", antworte ich ehrlich und versuche zu lächeln, woraufhin für einen kurzen Augenblick, ein verlegenes Lächeln auf Rens Gesicht liegt. Wie das, von dem kleinen Ren, den ich kenne. „Ist es anstrengend für dich, so stark zu sein?" „Naja, du bist Haruko. Ich liebe dich. Aber ich habe mich aus einem besonderen Grund zu dir gesetzt. Erst bin ich nervös, dann male ich mir alle möglichen Gespräche aus, entscheide mich für Texte die ich sagen kann, bin dann stark und selbstbewusst und ähm dann kam ich hierher, hab mich hingesetzt... und jetzt gerade lässt es etwas nach.", er kichert. „Deine Zeitform hat sich gerade verändert. Ist es also nur bei mir so?", frage ich erneut. „Scheint so.", antwortet er, mit Röte im Gesicht. Er richtet sich erneut auf, als würde er sich für etwas bereit machen. „Du weißt es.", spricht er ruhig und stark. „Blinde mit einem Krückstock würden es wissen. Hast du dir mal dein Gesicht angeschaut, wenn du bei ihm bist?", sage ich monoton und ernst. „Wow. Ich bin echt noch nicht fit, was Sozialverhalten angeht, aber ich glaube ich verstehe gerade, was Juuzen meinte, es sei eine verrückte Idee, mit dir darüber zu sprechen." „Normal ist das auch sicherlich nicht.", antworte ich sofort. „Für mich ist das normal. Bin ich normal. Sind wir normal. Ich kann nichts unnormales oder falsches daran erkennen.", kommt er mir entgegen. Was ist das? Zorn? Sein Gesicht ist plötzlich fest und markant, seine Augen starr. Ich versuche ruhig zu bleiben. Dieser Blick passt mir nicht. „Ihr seid Brüder. Ihr lebt zusammen, du bist mit ihm aufgewachsen?" „Wir sind nicht verwandt. Wir sind irgendwie zusammen gekommen und haben uns verliebt. Ist das ein Problem? Wenn du unbedingt wollen würdest, dass ich danach gehe, was auf dem Papier steht, würdest du auch nicht meine Mutter für mich sein, sondern Ruri." „Ist sie auch. Deine rechtlich eingetragene Mutter.", sage ich mittlerweile wütend zurück. „Ich habe nie ein Wort mit ihr gesprochen oder richtig kennengelernt. Weder die auf dem Papier, noch die, die mich zur Welt gebracht hat. Meine Mutter, bist du. Für mich bleibst du das auch, auch wenn du mich jetzt hasst, weil ich mit Haru zusammen bin." „Wer bist du??", motze ich ihn in einem wahrscheinlich völlig falschen Tonfall an. Es regt mich so auf! Ich muss weg! „Ja Ren, ich merke schon, dass ihr alles ganz wunderbar ohne mich hinbekommt. Entwicklung, Erfahrungen, Fortschritt, ja das ganze Leben. Danke für den Wein. Ich nehme mir ein eigenes Taxi. Bis dann." Ich muss weg! Einfach weg. Muss ich bezahlen? Nein, ich kann einfach so gehen. Ist ja alles schon erledigt. Ich muss mich von ihm nicht so anschauen lassen. So erwachsen. Mit so einem festen Blick. Mit so einem Ausdruck. Das brauche ich nicht.
„Hm? Haruko?", entkommt es Haru, der wartend an der Bar sitzt, als ich schnellen Schrittes an ihm vorbei gehe. Jetzt nicht. Ich will nur weg. Ohne ein Wort gehe ich raus, ohne einen Blick zurück.
„Taxi!!"
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Hochgeladen am 10.10.16
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Super Lovers / Mein Leben mit Ren
FanfictionRen und ich hatten wieder eine unserer Auseinandersetzungen. Unsere Beziehung ist einfach so kompliziert, meine Gefühle sind komplett durcheinander... oder auch nicht? [Meine Geschichte basiert auf dem Manga 'Super Lovers' von Miyuki Abe. Der Manga...