59. Tadaima

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„Ein bisschen verrückt ist das alles schon..."
Ich lasse mich nach hinten gegen ein Stück Felsen fallen, den ich mit meiner Jacke und einem Rucksack gepolstert habe und halte meinen Arm für Ren auf. Er lächelt und lässt sich gegen mich in meine Arme fallen, während er den letzten Bissen seines Apfels aufisst. „Mhm.", nickt er mir zu und genießt weiter den Ausblick in die Ferne. „Da stimme ich dir voll und ganz zu. Wenn man eines aus unserem Leben zusammenfassen könnte, dann, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt. Dass das Leben nicht über einen Kamm geschert werden kann und auch, dass man Dinge aus vielen Perspektiven betrachten sollte, bevor man sich ein finales Urteil bildet." „Stimmt. Manchmal gibt es einfach Situationen und Konstellationen die so komplex sind, dass man sie nicht einfach mal ebenso erklären kann. Wobei ich auch verstehen konnte, warum unser beider Konstellation im Nachhinein doch schon sehr fragwürdig erschien. Und auch unsere Ängste, vor allem meine, waren auch deutlich berechtigt." Er zuckt leicht mit den Schultern, stimmt mir aber auch etwas zu. „Naja, ja. Aber wären wir Mann und Frau gewesen, die Kindheitsfreunde waren, wie Geschwister groß werden, sich aber dann verlieben und ihre erste große Liebe in einer Ehe endet mit Glück und Kindern, wäre es eine traumhafte Geschichte, die jeder Hörer süß und romantisch findet. Ist es nicht das, was sich sogar viele wünschen? Mit seiner Jugendliebe alt werden? Das Mädchen von nebenan zur Frau nehmen?" „Ja, es gibt bestimmt Menschen, die das so sehen... ist aber auch eigentlich alles jetzt egal. Menschen die uns jetzt kennenlernen sehen ein homosexuelles, glückliches Paar und so interessant ist das in der heutigen Zeit auch nicht mehr." Ich kichere. „Verlobtes Paar.", korrigiert Ren mich. Er streckt seine Hand von sich und betrachtet den schwarzen Ring an seinem Finger und lächelt.
„Also so etwas verrücktes.", kichert er weiter. „Und dennoch passend. Passend, zu uns.", antworte ich darauf und strecke meine Hand zu seiner. „Wann hast du denn einen Ring besorgt?", frage ich und streichele mit meinem Daumen den Ring und bewege ihn hin und her. „Du bist nicht der einzige, der solche Dinge und Überraschungen vorbereitet. Ich trage ihn schon eine Weile mit mir herum." Er seufzt entspannt und glücklich. „Ich hatte gehofft, dass hier unser Ziel ist. Aber mit einem Ring hätte ich hier nicht gerechnet. Ich weiß nicht. Ich hatte in meinem Kopf immer die Vorstellung, dass ich dich frage. Daher hatte ich ihn in meiner Tasche. Innerlich hatte ich mir geschworen, dir den Ring direkt zu geben, sobald ich dich wiedersehe. Ich dachte aber, dass das doch etwas unpassend gewesen wäre. Und jetzt eben, konnte ich es einfach nicht mehr für mich behalten. Ich hoffe, ich habe dir keinen Moment kaputt gemacht.", grinst er etwas ironisch, weil er genau weiß, dass er Quatsch redet. Ich schließe ihn fester in meine Arme zur Antwort. „Der Moment war perfekt. Und dein Ring für mich ist wunderschön. Und damit hätte ich zum Beispiel nicht gerechnet... " „Passt zu deinen Augen und deinen Haaren finde ich.", meint er weiter, so beiläufig, als sei es für ihn völlig klar, mir den Antrag zu machen. Ich muss etwas schmunzeln.
„Ich finde meinen schwarzen Ring ebenfalls perfekt. Das er so matt ist, gefällt mir am besten glaube ich. Und ich weiß nicht warum, aber gold oder silber hätte ich mir nie vorstellen können. Schwarz ist perfekt."

Es ist witzig, dass wir hier bei dem Felsen doch so geschützt sitzen, dass es sich anfühlt, als hätten wir hier oben am Bow Summit die ganze Aussicht für uns alleine. Nur leichte Stimmgeräusche, die der Wind aber sogar noch weiter für uns wegträgt, dringen aus dem Hintergrund des Plateaus zu uns hervor. Die Hunde, die neben uns entspannt hier auf der Decke dösen, bekommen zudem eine wohlverdiente Pause.
„Was war dein Wunsch damals, wenn du meinen schon erraten hast?", frage ich Ren neugierig. „Hauptsächlich, etwas über meine Vergangenheit herauszufinden, aber auch nur wegen dem Hintergrund, genau das hier zu verwirklichen." Er streckt nochmal seine Hand aus. Ich lehne meinen Kopf in seinen Nacken und atme seinen Duft ein. „Ich freue mich auf Zuhause. Auch wenn ich hier alles liebe, liebe ich Japan mittlerweile auch. Auch, wenn es hier wirklich sehr befreiend war." „Ich habe eben im Auto so etwas ähnliches gedacht.", spreche ich in seinen Nacken und seinen Haaransatz hinein. „Vorher müssen wir aber noch Fotos vom See machen, von unseren Händen und dem See im Hintergrund und dich vor dem See allein. Ich will Rob und Fumie ein Bild von dir da lassen, wo du und der diesmal echte Peyto-Lake im Hintergrund sind und nicht nur eine Tapete." „Machen wir. Ich liebe dich Haru." spricht er nach vorne auf den See gerichtet. „Und außerdem freue ich mich, wieder ganz allein mit dir zu sein..."

Eine Weile sitzen wir so da und lassen die Zeit einfach so an uns vorbeiziehen, beobachten die tanzenden Kiefernspitzen im Wind, das türkise Glitzern im Wasser vor uns, die Weite und Höhe des Caldron Peaks gegenüber von uns, wie das Gletscherschmelzwasser Zeichnungen in den Boden malt und fragen uns, ob der Schnee auf der Spitze von Mount Patterson wohl wie im Winter unter den Füßen knirscht, obwohl wir gerade im schönsten Sonnenschein sitzen. Wir machen Fotos von dem bestmöglichsten Winkel des Wolfsumrisses mit den Hunden und beschließen zudem, wie die Hamiltons, in Zukunft öfters unseren Urlaub im Banff- oder Jasper-Nationalpark zu verbringen, um uns noch mehr von diesen schönen Schauplätzen der Natur Kanadas anschauen zu können.

Ren

„Hilfe, du erdrückst mich ja regelrecht!" Eine Dame über Lautsprechern unterbricht uns.

Passagiere des Fluges 325 Calgary/Vancouver. Wir bitten Sie in den Boardingbereich zu kommen.
Das Boarding für Flug 325 beginnt um 9:00 Uhr.

„Ren, pass gut auf dich auf, ja? Und auf Haru, und auf die Tiere, und auf deine Geschwister." Nochmal umarmt mich Fumie, als wäre es ihre letzte Umarmung für mich. Ich lasse es zu und möchte ihr das Gefühl geben, ihr kleiner Ren zu sein. „Okay, versprochen. Und du, pass' mir gut auf den alten Herrn da drüben auf." Sie lächelt sanft und wir beobachten Rob, der weinend in Harus Armen hängt. „So sentimental ist er sonst nicht. Es wird schlimmer mit dem Alter.", lacht sie, selbst fast am weinen. „Alles gut. Wir hören und sehen uns wie gewohnt über Telefon und Videochat. Und live sehen wir uns bestimmt auch wieder. Haru und ich haben beschlossen, öfters einen Urlaub in Kanada zu verbringen. Sie grinst und nickt mit dem Kopf. „Ihr hättet euch wirklich nicht die Mühe machen müssen, extra mit hierher zu kommen. Wir mussten ja eh alleine fahren wegen des Mietwagens und auch noch so viel früher wegen des Boardings der Hunde. Das ist doch alles viel zu anstrengend..." Ich streichle ihre Wange und schaue sie sanft an. „So haben wir aber doch länger etwas voneinander. Und unser Bekannter Ethan bekommt immer Räucherfisch von uns, Rob hatte was gut bei ihm und so hat er uns nun fahren können. Weißt du Ren, wir alleine schaffen das nicht mehr so. Aber die Lösung jetzt war doch schön und wir kommen auch mal ein bisschen heraus!" Sie schaut sich um und genießt leicht überwältigt die Atmosphäre des Calgary Airports. „Wenn ihr mit dem Aufzug nach oben fahrt, könnt ihr nach draußen auf die Aussichtsplattform gehen und noch ein bisschen die Aussicht genießen.", schlage ich ihr vor, woraufhin ihre Augen anfangen zu leuchten. „Das machen wir, und wir winken euch so lange nach, bis wir euch nicht mehr sehen können." „Okay." Ich lächele sanft und nehme sie nochmal fest in den Arm. Genau wie Rob einige Zeit später. Wir verabschieden uns eine ganze Weile und machen uns auf den Weg zum Boardingbereich, stellen uns in die Schlange an, wo schon das Handgepäck und die Tickets der anderen Passagiere kontrolliert werden.

Rob und Fumie sitzen mittlerweile mit Ethan hinter der Absperrung auf einer Bank und versuchen uns in diesem bunten Treiben des Boardings im Auge zu behalten, haben aber versprochen nach oben auf die Plattform zu gehen. Die zwei sind schon echt süß.

Mittlerweile stehen wir inmitten von Leuten, wobei die Schlange recht schnell abgearbeitet wird und wir fast vorne sind. „Diesmal haben wir einen Fensterplatz. Da wir ja erst einmal nach Vancouver fliegen, haben wir gute Chancen die Rockys nochmal von oben zu sehen." Haru funkelt mich an. Er hat sich wieder mal einen Zopf gebunden, nur um mich zu ärgern und unter all den Leuten verrückt zu machen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Er trägt ein lockeres und luftiges, weißes Leinenhemd und eine grüne, weitgeschnittene Jeans, bequem genug für einen langen Flug. Kurzum sieht er einfach fantastisch aus...
Der Zwischenstopp in Vancouver geht fast nahtlos von einem ins andere Flugzeug, sodass wir mit knapp 14 Stunden Reisezeit rechnen können, bis wir in Tokio/Narita landen. Morgen hätten wir den ganzen Tag für uns und Sonntag hat Shima und schon zum Essen eingeladen. Er und seine Frau feiern dann ihren zweiten Hochzeitstag.
Haru nimmt meine Hand und funkelt mich weiter an. Er sieht viel entspannter und glücklicher aus. Sein Gesicht wirkt ruhiger und wieder stark und selbstbewusst. So kenne ich ihn. Als ich ihn am Friedhof das erste Mal begegnet bin, sah er im Gegensatz zu jetzt wirklich furchtbar aus. Und das ich vor ein paar Tagen noch brechend über Marthas Toilette lag, scheint mir allerdings auch schon fünf Jahre entfernt. Ich lächele ihn auch an. Ich bin so glücklich gerade... „Bist du am träumen?", kichert er, spricht zu mir auf japanisch und streicht mir eine meiner längeren Strähnen zur Seite. „Ein bisschen.", gebe ich zu. „Von dir und unserem Bett zuhause. Dank deiner Haare...", antworte ich ebenfalls auf japanisch. „Witzig, wenn uns niemand versteht. Beim zweiten Flug müssen wir bestimmt schon besser aufpassen.", kichert er weiter. Ich drücke seine Hand. „Vielleicht muss ich ja gleich meine Brille aufsetzen, weißt du, meine Augen sind so angestrengt..." Ich necke ihn. Was du kannst, kann ich auch. Ein kleines Feuer entfacht in seinen Augen. Ein Spiel, welches wir ewig spielen könnten.

Ich glaube ich habe noch nie so viel auf einmal erlebt wie in den letzten zwei bis drei Wochen ab meinem Besuch bei Mikiko. Ich hätte aber auch nicht damit gerechnet, so viel in diesen zwei Wochen zu erfahren, zu verlieren und zu gewinnen.
Gestern Abend als Haru auf meinem Schoß eingeschlafen ist, als ich am Handy nochmal die Flugdaten gecheckt habe, habe ich noch einen Brief für Marha geschrieben und ein aktuelles Foto dazugelegt, sowie eins von meiner Mutter, wie sie glücklich und schwanger mit mir in die Kamera strahlt. Ich habe das Gefühl, dass es Martha gut tun wird, es zu sehen. Dank der Fotodrucker in jedem Supermarkt war das schnell erledigt. Auch Mikiko habe ich schon eine lange Mail geschrieben, mit allen Daten und Infos, meinen Erlebnissen und unter anderem auch Owens Kontaktdaten, der mir die Erlaubnis gegeben hat, um ihr bei Fragen und Papierkram zu helfen. Ich bin wirklich gespannt, was da alles noch rauskommt und wie ich tatsächlich überhaupt heiße und auch, wann wohl der Tag kommt, an dem ich meine Daten auch tatsächlich ändern lassen kann. Natürlich bin ich auch gespannt, ob an Owens Gedanken, es könnte jemand der Kono-Familie in Japan leben, noch etwas dran ist. Ich möchte mich ehrlich gesagt erst dann freuen, wenn es soweit ist.
„Wenn wir im Flugzeug sitzen, rückst du nach dem Start zu mir in die Arme und versuchst mal ein bisschen zu schlafen. Dein Träumen ist irgendwie auch ein Grübeln. Ich bestehe darauf." Haru holt mich wieder aus meinen Gedanken, die zugegebenerweise wirklich gerade in alle Richtungen gehen. Auch den Check scheine ich schon wie automatisiert überstanden zu haben, immerhin erwische ich mich, wie ich gerade schon hinter der Absperrung zum Flugzeug laufe.
„Abgemacht.", sage ich und halte es auch für eine gute Idee. „Danke für alles, Verlobter.", kichere ich, als wir ein letztes Mal Rob und Fumie zuwinken.


~


Als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe, springt uns ein riesiges Banner entgegen.
*** Welcome Home *** Okaeri Nasai *** お帰りなさい!***
„Ohhh wie schön!", ruft Haru begeistert, während Kiyo, der uns vom Flughafen in Narita eingesammelt hat, unten noch mehrfach hupt und dann auch wieder wegfährt. „Das ist wirklich toll. Wie schön!", bestätige ich Haru, wirklich dankbar über das Banner und auch, das keiner von ihnen hier ist. „Tadaima... wir sind wieder da...", murmle ich leise zum Banner.
Ich möchte einfach nur noch alle Klamotten in die Ecke werfen, duschen und ins Bett. „Gott sei Dank ist niemand hier.", guckt Haru mich leicht beschämt über seine eigenen Gedanken aber etwas lustig gestimmt an. „Ich dachte mir das gleiche.", gebe ich zu. „So ordnungsliebend wie du auch bist, können wir einfach alles in eine Ecke schmeißen, duschen und schlafen gehen?", kichere ich wirklich erschöpft und müde, woraufhin er schon zu mir kommt, mich packt und mit einem beherzten Kuss an die Wand im Flur drückt. „Mhhh... Haru.. bei aller Liebe." „Oh vergiss es, ich bin zu gar nichts mehr in der Lage. Fällig bist du erst morgen... also ähm später. Morgen ist ja schon seit einer Stunde. Keine Ahnung. Jetlag. Wie spät ist es?!" „Irgendwas um zwei Uhr." „Raus aus den Klamotten. Ich will dich nackt in unserem Bett." Ich kichere. „Ich komme gleich.", verspreche ich, während ich noch Tanuki und Kuro versorge.
„Ihr zwei seid einfach die Besten. Ihr habt das toll gemacht. Schlaft nachher schön." Kuro bafft mich sanft an und Tanuki tapselt schon erwartungsvoll vor seinem Napf. Eine solche Reise mit den Hunden hat auch viel organisatorisches mit sich gebracht, dennoch war es das absolut wert. Ich hätte ohne sie nicht sein wollen.

„Haben wir morgen denn irgendetwas vor?", frage ich im Halbschlaf Haru, der eingekuschelt an meinen Oberkörper, sich von mir seinen Kopf kraulen lässt. „Nein, du gehörst morgen mir. Wir müssen noch unsere Verlobung feiern.", murmelt er weiter und diesmal ist es Haru, der als erster in einen tiefen Schlaf driftet.



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Hochgeladen am 24.06.20
Nächstes Mal: Ein neues Geräusch

Super Lovers / Mein Leben mit RenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt