2. Erinnerungen

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Das Zusammenleben mit all meinen Brüdern...
Ren hat Recht, das war immer mein Traum.

Meine Eltern haben sich getrennt als ich noch sehr klein war. Mein Vater Kaidô Takashi blieb in Japan und ich zog mit meiner Mutter Haruko nach Kanada, wo sie besser an ihren Forschungen und Schriftstücken arbeiten konnte. Auch ihr Rudel immer größer werdender Wolfshunde war dieser Umzug sehr gelegen. Bis ich acht Jahre alt war, lebte ich dann dort mit ihr zusammen, aber das hat auf Dauer nicht funktioniert. Man kann sagen... Haruko ist eine schwierige Frau. Ihre Forschungen über alles mögliche und ihre Arbeiten für große Firmen nahmen so viel Zeit in Anspruch, dass wir vielleicht zwei Worte in einer ganzen Woche wechselten... Ich ging also zurück nach Japan zu meinem Vater und seiner neuen Frau Ruri. Sie wurden gemeinsam wieder ein Stück mehr Familie, als es bei Haruko war. Aki und Shima, die Zwillinge der beiden, wurden zu meinen Halbbrüdern. Es war besser so. Für alle...

Als ich Haruko eines Sommers in Alberta unweit des Ghost Lakes besuchte als ich gerade erst 17 war, sah ich Ren das erste Mal. Er war acht Jahre alt.
Mein Vater bestand damals darauf, dass ich sie und ihr Rudel besuchen sollte. Ich habe mich immer hervorragend mit den Hunden verstanden. Vor allem mit den Leitrüden Quark und Lepton. Ich bin quasi mit den beiden aufgewachsen wie mit Brüdern. Im Endeffekt weiß ich nun, warum ich unbedingt nach Kanada reisen sollte. Ich sollte Ren kennenlernen.

Ren war ab dem ersten Moment an anders. Anders für die anderen, anders für mich. Wie sehr anders er für mich war, spürte ich, als ich ihm das erste Mal in die Augen blicken konnte. An dem Tag als ich am Haus meiner Mutter ankam, war er noch im Haus und wollte unbedingt weg, wieder in die Natur, raus mit den Hunden. Man hörte einen Streit von oben und ich wollte danach schauen, als ich die Tür öffnete und es lauter wurde. Ich erinnere mich sehr gut... er sprang einfach vom Balkon auf unser darunter parkendes Auto. Als würde er fliehen. Vom Dach des Autos, aus dem ich gerade ausstieg, blickte er mir das erste Mal in die Augen, intensiv und durchdringend, bis in meine Seele... sprang dann einfach weiter runter, rannte weg und verschwand in den Wäldern. Mich heute an dieses Gefühl zurückzuerinnern ist komisch. Er war wie eine alte vertraute Seele aus einem anderen Leben. Das unser Weg sich bis hier her zieht, wo wir uns beim essen anschweigen weil all unsere Gefühle durcheinander sind, konnten wir uns beide wohl nicht denken.

Er war so wild und vor allem war er kein normales Kind seines Alters.
Später erfuhr ich dann mehr über ihn. Nicht nur, dass er tatsächlich so anders wirkte, wusste auch Ren nichts über sich, sprach auch kaum ein Wort bis auf "Schlafen" oder "Essen". Er hatte Angst vor anderen Menschen, wollte nicht im Haus schlafen... er versteckte sich einfach in einer anderen Welt bei den Hunden in der Garage. Wenn ich daran zurückdenke, zerbricht es mir das Herz, das er mit sechs Jahren verwahrlost auf einer Straße gefunden wurde und in das Heim gebracht wurde, von dem Haruko ihn zwei Jahre später zum Glück aufnahm. Warum überhaupt, wird ein japanisches Kind fast leblos auf einer Straße in Kanada gefunden? Mit welchen Menschen war er zusammen? Was zum Teufel ist überhaupt passiert?

Ich streiche mir angestrengt durch die Haare und über die Stirn. Mir steckt ein Kloß im Hals. Das Hier und Jetzt vermischt sich mit allen Erinnerungen.

Die Mitarbeiter merkten im Heim, das Ren nur japanisch sprechen konnte und Haruko wurde als einzige Japanerin weit und breit herangezogen. Und das auch nur, weil sie als Japanerin mit Wolfshunden über ein kanadisches Schutzprogramm dieser Tiere bekannt war. Eigentlich war es reiner Zufall. Oder Schicksal? Das Heim und Harukos Wohnort liegen tatsächlich auch etliche Stunden auseinander.
Die Hunde, immer mit ihr unterwegs, sprangen auf Ren an, hatten direkt eine Bindung zu ihm und er zu ihnen. Vielleicht auch, haben die Hunde Ren aus dem Heim geholt. Und ist es Schicksal, dass gerade der Hund, mit dem ich mich wie meinem Seelenverwandten verstehe, auch Ren in sein Herz geschlossen hat? Wer weiß das schon? Jedes Mal wenn ich Ren heute beobachte, bin ich so froh, wie alles gekommen ist. Vor allem bin ich froh, dass Haruko dieser scheinbar subtile Grund reichte, dass die Hunde Ren mögen, einen Menschen aufzunehmen. Aber ich wünschte auch, es hätte nie so weit kommen müssen... und dann erwische ich mich, dass ich den Gedanken verdränge, da ich ihn sonst vielleicht niemals kennengelernt hätte?
Zudem bin ich überhaupt froh, dass die Kanadier erst einmal meine Mutter herangezogen haben, als sie nicht weiter mit ihm gekommen sind, anstatt noch weitere Institutionen einzuschalten, oder professionelle Übersetzer. Meine Mutter Haruko ist nämlich genau genommen auch nur Halb-Japanerin, denn ihr Vater ist Amerikaner. Es hätte auch noch so viel weiteres anders laufen können. Auch frage ich mich immer wieder, warum nicht weitere Nachforschungen betrieben wurden, um herauszufinden wo Rens Familie ist, was passiert ist?

Dieser Sommerurlaub, dieser Besuch... er hat mein ganzes Leben verändert.
Nein, Ren hat mein ganzes Leben verändert...

„Ich bin zuhause." Rens Worte sind monoton, aber doch bestimmt. Sie holen mich zurück ins Hier und Jetzt und ich schrecke kurz auf. „Hey...Hallo Ren, hallo Tanuki.", antworte ich monotoner als geplant und er schaut mich an.
„Warum ist der Boden nass?" Oh- erst jetzt bemerke ich, das alles nass ist, ich muss das Wasser laufen lassen haben.
„Tut mir Leid Ren, ich war wohl in Gedanken verloren... ich habe an unseren ersten Sommer gedacht, als wir uns kennengelernt haben...", gebe ich zu.
„Mir tut es leid, dass ich nun acht Jahre älter bin als damals und ich mich so verändert habe, dass du nicht weiter weißt mit deinen Gefühlen!"
„Was? Nein, so meinte ich das nicht! Ren bitte, warte, so meinte ich das gestern nicht!"
Das tat weh. Ich starre leer auf die Arbeitsplatte, meine Füße spüren mittlerweile das Wasser.
Ren geht weg, er macht so schnell auf dem Absatz kehrt, dass ich ihm nur noch nachschauen kann. Er geht... weg von mir.
Ich seufze und versinke wieder in Gedanken... nachgehen bringt ja doch nichts. Ich bekomme keinen geraden Satz heraus und das führt unweigerlich wieder zu neuen Missverständnissen.

Nicht nur den Sommer verbrachten wir zusammen, knapp fünf Jahre danach kam er dann ganz nach Japan. Erst lebte er bei mir, als ich noch alleine gewohnt habe, dann wir alle zusammen in dieser Wohngemeinschaft. Wir hatten uns in dem Sommer versprochen, das wir irgendwann einmal zusammenleben würden, alle zusammen. Wenn ich Geld verdienen kann und mit der Schule und allem fertig bin. Als er damals vor meiner Tür stand wollte er das einlösen. Seit dem ist er bei mir. Jeden Tag... Und selbst das ist ein Wunder, wenn ich daran zurückdenke, was in den fünf Jahren passiert ist, als Ren noch nicht bei mir war.

Die Zeit zwischen dem ersten Kanadaurlaub und dem Klingeln an der Tür. Wenn ich die Augen schließe, höre ich sie, als wäre es gestern gewesen. Ich seufze und atme schwer aus. Der Unfall, mein Gedächtnisverlust, die Schmerzen. Ich habe nicht nur mich vergessen nach dem Urlaub, sondern auch Ren. Habe im Prinzip alles wichtige verloren und ich wusste nicht einmal, was das überhaupt war.
Es ist alles komplett verrückt... Und doch, leben wir nun alle hier- unter einem Dach.

„Haru, brauchst du Hilfe? Hier sieht es schlimm aus!" Shima blickt von der Galerie auf mich in die Küche hinunter, die Tür im ersten Obergeschoss fällt zu, man hört Aki gerade noch fluchen, er muss wohl beim Videospiel gestorben sein. Wieder schrecke ich hoch.

„Ich war nur in Gedanken, ich wische das Wasser sofort wieder auf.", entgegne ich ihm, doch Shima kommt schon die ersten Stufen hinunter. „Was ist los?", fragt er. „Ich war nur in Gedanken, tut mir leid wegen der Sauerei."
Shima ist wirklich ganz anders als sein Zwillingsbruder Aki. Nicht nur, dass er deutlich größer ist und eine Brille trägt, sein Charakter ist auch ganz anders. Ruhiger, stumpfer und auch sanfter. Die brauen Augen, braunen Haare und das spitze Gesicht, das sind Dinge, die die beiden vereinen. Aki wäre nicht einmal aufgefallen, das der ganze Boden überschwemmt ist.
Wir schweigen als wir den Boden putzen, Hand in Hand geht es schnell und der Boden ist wieder trocken.

Es ist nun recht still hier. Sieben Räume hat unsere Wohnung. Aufgeteilt auf zwei Etagen, mit einer Terrasse und zwei Fluren - und alles ist ruhig, nur ab und zu kommt ein gedämpftes Fluchen aus Akis Zimmer.

Shima schickt mich still und ohne Worte auf das Sofa, bringt mir ein Wasser. Er seufzt kaum hörbar und setzt sich zu mir, schaut mich an, lässt aber wieder von mir ab. Meine Gedanken sind allerdings wieder wo anders. Als er sich einen Film aussucht, gibt mir das die Möglichkeit, mich wieder in ihnen zu verlieren.

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Nächstes Mal: Familienkonstellation


Super Lovers / Mein Leben mit RenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt