Ren
Ich bin da.
Drei Stunden Autofahrt hat mich der Weg hierher gekostet, über die Grenze hinweg, sogar mehrmals, wenn ich so genauer darüber nachdenke. Aber jetzt bin ich da. Meine Beine werden wieder etwas weich, als ich in die Einfahrt einlenke und den Motor vor einer Garage verstummen lasse. Ich atme tief durch, vergleiche nochmal die Adresse auf meinem Stück Papier und auf dem Schild am Haus und schaue in den Rückspiegel. Mein Blick verfängt sich in den zwei Augenpaaren auf der Rückbank und bleibt dort für kurze Zeit ruhen.
„Na los, auf.", sage ich zu meinen Begleitern und zwinkere ihnen zu, kurz bevor wir gemeinsam aussteigen.
Umzäunt von Fichten, mächtigen Kiefern und etlichen Blattschmuckpflanzen, steht ein kleines, hellgraues End-Reihenhaus. Es hat eine typisch kanadische Veranda, blaue Ziegeln auf dem Dach und viele spitzen Gauben. Das Holz, dass die Veranda verkleidet, ist wie bei den anderen Häusern weiß gestrichen und sehr gepflegt. Ich atme wieder tief ein und aus...
Es ist ein sonniger Tag hier am Rande von Vancouver, der Himmel strahlt wunderbar blau und wird ab und zu nur von ein paar Cirren verwischt. Das macht den Anblick nur umso schöner. Die mächtigste der Kiefern stützt ihren größten Ast auf das Garagendach, das an die Veranda abschließt. Es wirkt fast so, als würde sie ihren Arm um das Haus legen und es beschützen. Es strahlt Wärme auf mich aus. Ich mag diese Szenerie.
Die sieben Stufen hoch zur Tür kosten mich Mut, denn ich ertappe mich erneut selbst dabei, etwas zu zögern. Ich fühle mich wie auf einer Achterbahnfahrt. Ein durchgehender Wechsel von Enthusiasmus und Angst. Ich bin nachsichtig mit mir und gebe mir noch eine Minute. Trotzdem spüre ich, wie mir eine Schweißperle nach der anderen die Wirbelsäule entlang rinnt. Nochmals atme ich tief ein und aus.
Die Bäume legen den ganzen Vorgartenbereich in einen tiefen Schatten und so fühlt es sich schön mild an, dafür dass es Mitte August ist und die Sonne ihre volle Kraft und Wärme auf uns strahlt. Meine Sinne sind alle auf 100% hochgefahren. Jedes Geräusch und jeder Geruch scheint mich förmlich anzuspringen. Angespannt und alarmbereit, fluchtbereit könnte man es auch nennen. Aber ich versuche mich wieder auf positive Dinge zu fokussieren, und nicht darauf, dass sich meine ganze Zukunft gleich ändern könnte.
Es ist schön wieder hier zu sein. Und es ist schön, wieder eine andere vertraute Sprache zu hören. Gerne flüchte ich mich heute noch ins englische, wenn ich mich sicher fühlen möchte. Die Geräusche um mich herum, wie die Stimmen der Menschen oder das Autoradio, erinnern mich an dieses Gefühl. Auch wenn ich japanisch ebenso liebe, ist es, als sei auch englisch ein Teil von mir. Und das liegt nicht nur an Rob, Fumie oder Haruko. Viel tiefer spüre ich dieses Sprachgefühl in mir.
Menschen zu sehen, die sich offen und lauthals begrüßen und über die Straße schreien, wie es einem geht und dass man sich schon lange nicht gesehen hat, man rüber kommen soll. So etwas würde es in Japan in dieser Form nicht geben. Zumindest nicht bei uns in der Wohngegend. Die Menschen strömen einfach von einem Platz zum nächsten, ohne aufzuschauen, ruhig und zielstrebig. Ja schon ein Fluss aus Menschen.
Hier scheint es lockerer zu sein, fast schon entschleunigt.
Ich gehe erneut einen Schritt weiter Richtung Treppe und Tanuki und Kuro schauen mich mit einem beobachtenden Blick an. Beide sind sie nur einen Schritt hinter mir und folgen mir sofort, wenn ich auch nur einen Meter weiter gehe. Ich schaue zurück und nicke den beiden zu.
Auf mein Knopfdruck ertönt eine leise summende Musik. Kein typisches Ding Dong und auch kein normales Klingelgeräusch, eher eine Melodie, die ich irgendwoher zu kennen scheine. Zumindest kommt sie mir vertraut vor. Tief durchatmen...
Ich schaue die beiden noch einmal an.
Wir verstehen uns durch Blicke, als wären unsere Gedanken verbunden, als wären wir ein Rudel. Ich fühle mich nicht allein, wenn ich die zwei ansehe. Die beiden unterstützen mich. In jedem Moment. Ich kann mich voll auf die beiden verlassen. Tanuki schaut wieder etwas drollig und versucht mir Mut zuzusprechen, er kennt mich gut und auch länger.
Kuro hingegen schaut mich eher mit einem starrem Blick an, entschlossen und mutig. Er kennt meine unsicheren Seiten von damals nicht so sehr wie Tanuki. Es ist sogar erfrischend, denn er nimmt mich, ohne auf mich zu achten und sich um mich zu sorgen. Er schenkt mir dadurch Mut und Stärke. Und Tanuki schenkt mir Zuversicht und Vertrauen, positive Energie und Fürsorge. Der kleine ist wie er - als hätten die zwei eine Vereinbarung abgeschlossen. Ich muss grinsen und beginne zu kichern, als sich plötzlich die Tür öffnet und unsere stumme Kommunikation abrupt beendet.
„Ja, hallo? Entschuldigen Sie, ich bin nicht so schne-", fängt eine ältere Dame an zu sprechen, bricht ihren Satz aber ab, als sie mir die Tür komplett geöffnet hat. Es scheint eine freundlich wirkende ältere Dame in ihren Siebzigern zu sein. Sie hat weißliche Haare und trägt ein hellblau geblümtes Kleid. Auch ist sie deutlich kleiner als ich und schaut mich mit großen Augen von unten nach oben an. Sie steht plötzlich verstummt einfach nur da, so, als hätte sie einen Geist gesehen.
Das verunsichert mich und ich weiche wie automatisiert einen Schritt zurück, ohne das ich etwas dagegen machen kann. Tanuki und Kuro weichen ebenso automatisch einen Schritt zurück, setzen und legen sich aber direkt wieder brav hin, für mich ein Zeichen - mir droht keine Gefahr und ich bin in Sicherheit.
Da ich sie nicht ganz lesen kann, lege ich meinen Kopf etwas schief. Ich schaue ihr direkt in die Augen und mache das, was er tun würde. Ich lächele sein Lächeln.
Ich kenne die Dame nicht, aber sie ist mein Ziel.
Ich bin da.
„Guten Tag, sind sie Miss Martha Tremblay?", frage ich sie freundlich. „Mein Name ist Ren.", erweitere ich meine Begrüßung, als sich ihre Augen mit Tränen füllen.
–––––
Hochgeladen am 24.08.18
Nächstes Mal: Schwarzer Kaffee
Hallo meine Lieben. Ich bin wieder da!
In diesem weiterführenden Teil, geht es bei den ersten Kapiteln
um Rens Reise in seine Vergangenheit. Es ist statt aus Harus Sichtweise, häufig
also aus Rens Perspektive geschrieben. Viel Spaß! <3
Eure Soraly!
DU LIEST GERADE
Super Lovers / Mein Leben mit Ren
FanfictionRen und ich hatten wieder eine unserer Auseinandersetzungen. Unsere Beziehung ist einfach so kompliziert, meine Gefühle sind komplett durcheinander... oder auch nicht? [Meine Geschichte basiert auf dem Manga 'Super Lovers' von Miyuki Abe. Der Manga...