Ren
Ich schaue Martha an.
Geduldig hat sie auf mich gewartet, als ich wie ein Haufen Elend im Badezimmer saß. Gutmütig hat sie mir anstelle des Kaffees ein Glas Wasser geholt und nun hat sie sich ebenso gefasst und entschlossen wie ich, meine Geschichte angehört.
„Wissen Sie, es ist schon vorteilhaft wenn man solche Anwälte kennt. Ich freue mich, dass sie meinen Namen herausfinden konnte. Irgendwelche roten Fäden haben uns an jenem Tag verbunden und nun haben wir uns wiedergefunden." Martha, die mittlerweile mit Tanuki auf dem Schoß in ihrem Sessel sitzt, wirkt gelassener als noch vorhin. Genau wie ich.
„Geht es Ihnen besser, junger Allen Ren?", fragt sie mich auf Tanukis Kopf schauend, während sie ihm mit ihren zarten Händen den Kopf zwischen den Ohren krault. „Allen war ja auch Ihr Name, wissen Sie. Ihre Mutter war sehr sehr schwach. Aber da sie noch versucht hat, englisch mit mir zu sprechen, bin ich mir ziemlich sicher, dass das Ihr Name war. Natürlich. Sie war eine Japanerin. Vielleicht könnte sie auch Ren gesagt haben. Das ist alles ziemlich lange her, wissen Sie. Ich bin nicht mehr die Jüngste. Aber vielleicht heißen Sie ja auch beides. Eine Art Doppelnamen eventuell. Wären Sie in meiner Generation, würde ich Sie nun Al nennen.", sie lächelt ein wenig. Immer noch auf Tanuki schauend.
„Wenn ich könnte, würde ich selbst den Wolf auf meinen Schoß lassen. Aber ich denke, dass ich dann zusammenbreche.", sie lacht kurz auf und kichert ein bisschen. Dann wird sie ernst.
„Hatten Sie denn ein gutes Leben bisher? Können Sie mir etwas erzählen... über dieses Leben?", fragt sie und schaut mich diesmal an. Ihre Augen wirken etwas erschöpft. Es muss auch emotional anstrengend für sie sein.
Ich strecke mein Kreuz und schaue sie aufrichtig an.
„Ja Martha, das hatte ich. Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, was passiert ist und wie ich nach Kanada gekommen bin, aber in Kanada habe ich eine Familie und eine Liebe gefunden. Ich habe eine wirklich wunderbare Familie. Und zwei großartige Hunde. Ich lebe in einem sehr schönen und ruhigeren Ortsteil von Tokio in Japan, und arbeite als Dolmetscher und Übersetzer. In meiner Freizeit lese ich viel und gerne, koche hin und wieder und übe mit viel Leidenschaft Karate aus. Dieser Kampfsport hilft mir, meine immer mal wiederkehrenden Unsicherheiten in den Griff zu bekommen. Heute war ich nicht so gut darin, aber heute ist auch ein sehr besonderer Tag. Es tut mir Leid, falls ich Ihnen einen Schrecken eingejagt habe, Martha. Ich möchte bald heiraten. Und dazu muss ich meine Vergangenheit aufklären. Um meinen richtigen Namen anzunehmen.", führe ich aus, als sie meinen Satz beendet. Sie lächelt wieder. „Vielleicht habe ich dann doch nicht alles falsch gemacht. Und vielleicht hat Gott es gut mit mir gemeint. Meine Strafe war meine Unwissenheit über Ihre Existenz Allen Ren, und nun weiß ich, dass es Ihnen aber doch gut ergangen ist. Ich danke Gott dafür. Und ich danke ihm für die Lektion und die Strafe. Es gab kaum Tage, an denen ich nicht an Sie gedacht habe und nun möchte ich auch meinen Teil dazu beitragen, dass Ihre Geschichte geklärt wird, Allen Ren."
Martha guckt mich entschlossen an und versucht mit Tanuki im Arm aufzustehen. Mit einer Hand halb gestützt auf dem Gehwagen, schubst sie Tanuki liebevoll in das Körbchen des Wagens und läuft wieder sehr gebrechlich wirkend, in einen anderen Raum. Sie nickt immer etwas, als würde sie wieder zu ihren Geistern sprechen.
Ich atme derweil tief durch. Schaue Kuro an, der wieder genüsslich seinen Kopf auf meine Knie gelegt hat und immer mal wieder in einem Sekundenschlaf eindöst. Beim genaueren Schauen durch ihr Wohnzimmer fällt mir auf, dass es wirklich blitzeblank sauber ist. Haru würde sie dafür lieben und es extrovertiert loben. Er wäre begeistert von ihrer Konsequenz. Ein Schmunzeln durchfährt meine Lippen.
Es wirkt fast so, als würde sie immer auf einen Besucher gewartet haben. Als sei sie nie sie selbst und würde mal etwas herum liegen lassen. Eher, als sei alles immer bereit, als könne es jetzt losgehen. Auf der anderen Seite hingegen wirkt es aber sogar so, als würde ein gepackter Koffer neben dem Sessel stehen und als würde sie bald abreisen wollen. Als wäre sie nur ein Besucher, der bald geht und alles rein hinterlassen möchte.
Kuros Ohren spitzen sich und er schaut mich an, als hätte er denselben Gedanken.
Das Wasser tut gut, es spült den furchtbaren Geschmack von Leid herunter, der eben in mir hochgekrochen... und herausgekrochen ist.
An dem Tag bei Mikiko habe ich versucht taff zu sein, aber ich konnte abends auch zu ihm ins Bett steigen und mich einfach nur halten lassen. Und dazu kommt, dass es eine vertraute Stadt war, ein vertrautes Land, eine vertraute Mikiko und eine vertraute Kanzlei. Jetzt sieht die Sache etwas anders aus. Ich fasse mir an meine Wange und spüre förmlich Harus Hand. „Sei gut zu dir. Sei gnädig mit dir. Verzeih' dir. Man kann nicht immer stark sein und auch das ist okay." Oh Haru. Ich liebe dich so sehr. Du fehlst mir. Kuro schaut mich erneut an. „Ich weiß, du vermisst ihn auch.", sage ich sanft zu ihm und stupse seine Nase an.
„Oh das klappt ja gut!", lache ich freundlich zu Martha, die mit Tanuki im Korb wieder das Wohnzimmer betritt. „Und so ein braver Mitfahrer!", antwortet sie und lässt sich wieder mit einem schnaufen, rücklings in den Sessel fallen. Sie hält ein kleines, sauber gefaltetes Blatt in ihren Händen.
„Dieses Stück Papier war die ganzen letzten Jahre mein Schatz." Es folgt eine kurze Pause. „Aber ich brauche es ab heute nicht mehr. Seattle war damals. Heute ist heute und morgen wird morgen sein.", sagt sie schließlich und streckt sich etwas in meine Richtung und hält mir ihren Schatz entgegen.
Es sieht aus wie Zeitungspapier. Auf der sichtbaren und verblassten Seite die ich gerade sehe, könnte man eine alte Werbung für Bohnen erahnen, aber auf ihr Nicken hin, falte ich es weiter vorsichtig auf.
„Spendenaktion zum Jahrhundertwechsel der US NAVY Jones Base in Seattle. Soldaten feiern Familienfest.", lese ich unbewusst und leise die Headline des Artikels vor.
„Es ist leider nicht mehr alles lesbar. Ich weiß nur, dass die Station der US NAVY in Seattle damals ein Familienfest veranstaltete. Ein paar Ärzte haben mitgeholfen und geimpft zum Beispiel, wissen Sie? Flüchtlinge, arme Familien. Das war egal. Sie haben etwas Gutes getan. Auch ein paar Schwestern des großen Krankenhauses, in dem auch ich arbeitete, waren dort. Ich stand kurz vor meinem Ruhestand und habe nicht mehr Vollzeit gearbeitet. Aber ich wollte noch mithelfen. Ich habe Ihre Eltern und Sie aber nicht persönlich getroffen. Erst, als ihre Mutter ins Krankenhaus kam, und es ist ein Wunder, dass sie überhaupt jemand gefunden und ihr geholfen hat, habe ich mich an den Artikel erinnert. Sie fiel auf. Ihre langen und pechschwarzen Haare vergisst man auch nicht als Frau. Darauf war jeder neidisch. Sie war dazu sehr klein und auf dem Bild sieht man sie gut. Ich hätte etwas sagen können. Ich hätte etwas sagen sollen, ja sogar müssen. Aber ich tat es nie. Ich habe nie meine Vermutung geäußert. Habe nie gesagt, dass diese Frau auf dem Bild, die arme Frau war, die anonym in meinen Armen gestorben ist. Und deshalb hat auch Gott mich bestraft...", sie schaut wieder auf Tanuki während sie spricht. Auf ein winziges Kopfzucken von mir, klettert er wieder auf ihren Schoß und lässt sich bereitwillig streicheln. Es beruhigt sie. Und es beruhigt mich, wenn Martha ruhig redet. Und nicht so wechselhaft wie zuvor. Ich versuche mich zusammen zu reißen und konzentriere mich auf meine Atmung, um nicht erneut brechen zu müssen.
Sie schaut mich intensiv an und dann wieder weg, es folgt eine Pause in der wir beide schweigen.
„Es tut mir so unfassbar Leid, Allen Ren.", sagt sie wieder zu Tanuki.
„Wie alt sind Sie jetzt?"
„22 Jahre.", antworte ich ihr.
„Dann müssen Sie gleich auf dem Bild dort vier Jahre alt sein. Kennen Sie ihren Geburtstag?", fragt sie wieder Tanuki.
„Ja, den kenne ich. An meinen Namen und mein Alter konnte ich mich erinnern. Ich habe an Weihnachten Geburstag. 1996.", antworte ich weiter.
„Ihre Mutter kam eines Abends 2002 zu mir in die Notaufnahme und auf die Station. Da müssen Sie also circa sechs Jahre alt gewesen sein. Sie waren aber nicht dort an jenem Abend...", kombiniert sie weiter. „Ja, ich kam in ein kanadisches Heim als ich sechs Jahre alt war und mit acht Jahren kam ich zu meiner jetzigen Familie." Ich versuche all ihre Fragen schlüssig, sowohl für mich als auch für sie, zu beantworten. Ihrem angestrengten Blick zufolge, lasse ich aber bewusst Namen und Details aus. Es ist schon anstrengend genug für uns beide.
Ich bin deutlich ruhiger als noch eben zuvor. Obwohl ich ein Stück Papier in der Hand halte, das konkret auf meine Familie hinweisen muss.
„Falten Sie es ruhig weiter auseinander, junger Allen Ren. Sie schauen so ungläubig. Ich lüge Sie nicht an, das ist die Wahrheit nun. Sehen Sie die Bilder an der Wand, die Frau da an der Wand mit der Uniform bin ich, ich bin nur etwas grauer geworden. Der Artikel ist echt.", sagt sie wieder und ich tue, was sie von mir möchte.
Mein Herz macht einen kleinen Sprung, als ich erkenne, dass unter dem Zeitungsartikel ein Foto abgedruckt ist. Schwarz weiß, alt, verblasst. Es ist weich. Die Knicklinien sind schon so fein, dass sie beim nächsten Falten auseinander fallen könnten. Sie muss es oft geöffnet und geschlossen haben. Ich fahre mit meinen Fingerspitzen vorsichtig darüber.
Es sind viele Menschen darauf zu sehen. Meine Augen suchen systematisch und doch wirr jeden und alles ab. Darunter stehen Namen, im Hintergrund sieht man den Namen der Station und Luftball-
Ich kann förmlich spüren wie meine Augen einen Satz machen und sich weiten, mein Herzschlag und Puls verschnellern sich augenblicklich.
Da! Das muss sie sein.
Da...!
„Kaum zu übersehen, obwohl sie so winzig ist.", spricht sie zu Tanuki, als sie meine veränderte Körperspannung bemerkt. Ich bekomme alles nur noch am Rande mit.
Zwischen all den Männern in Uniform, sieht man sie ganz deutlich. Eine kleine Frau mit langen schwarzen Haaren. Eine nicht amerikanische Frau. Man sieht deutlich, dass sie eine Asiatin ist, eine Japanerin. Sie sitzt vor einigen Männern auf einer Bank. Einer der Männer hat die Hand auf ihre Schultern gelegt. Ein Mann neben ihm, hält diesen Mann im Arm und zeigt ein Peacezeichen. Neben ihr, sitzt ein kleines Kind. Daneben weitere, deutlich größere Frauen, einige davon halten sich glücklich den Bauch. Alle lächeln sie ein strahlendes Lächeln. Auch das kleine Kind lächelt ein strahlendes Lächeln. Und ich kenne dieses Kind.
Ich lächele ein strahlendes Lächeln.
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Hochgeladen am 09.09.18
Nächstes Mal: Master Gunnery Sergeant Owen Miller
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Super Lovers / Mein Leben mit Ren
FanfictionRen und ich hatten wieder eine unserer Auseinandersetzungen. Unsere Beziehung ist einfach so kompliziert, meine Gefühle sind komplett durcheinander... oder auch nicht? [Meine Geschichte basiert auf dem Manga 'Super Lovers' von Miyuki Abe. Der Manga...