19. Alltag

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Die Regensaison ist nun wirklich offiziell eingeläutet. Es ist düster und regnet seit heute Morgen durch. Die Straßen platzen dennoch wieder nach dem Wochenende aus allen Nähten. Viele Gestalten laufen hastig hin und her, bunte Regenschirme über den Köpfen. Einige rennen sogar, einige auch ohne Schirm. Scheinen es förmlich zu genießen. Ich glaube ich wäre diesmal einer von ihnen. Nach so einem Wochenende... Der Blick von der Kaffeemaschine zum Fenster hinaus, kann manchmal ziemlich interessant sein und lädt mich immer wieder zum tagträumen ein.
Als ich die Milch aufschäume entgleitet mir ein Seufzer. Ren ist vor zwei Stunden zur Schule gegangen... und ich vermisse ihn jetzt schon...

„Bitte sehr der Herr, einmal Ihren Milchkaffee.", sage ich zu einem schick gekleideten Mann und stelle eine heiße Tasse vor ihm auf den Tisch.
Er schaut mich genau an. Er mustert meine weißen Schuhe, meine weiße Hose, meine fast bodenlange Schürze, mein schwarzes Hemd, meinen Pferdeschwanz. Was hat er nur? Ich sehe seine Augen auf und ab wandern.
„Ähm, kann ich Ihnen sonst noch etwas Gutes tun?", ich lächle ihn leicht verwirrt an. „Nein, nein, alles in Ordnung.", antwortet er.
Als ich die Tische abwische, huscht mein Blick immer wieder zu ihm.

Was macht so ein Mann, so früh morgens bei mir im Café? Die meisten Gäste frühstücken eine Kleinigkeit, treffen sich mit Freunden oder sind in ihrer Freistunde oder Schulpause hier. Er scheint zu keiner Kategorie zu gehören. Er hat dunkelbraune Haare, ist klein aber sportlich. Hat eine Brille auf, dazu trägt er einen sehr teuren Anzug und goldene Manschettenknöpfe. Wie alt mag er sein? Deutlich über 30. Vielleicht 40? Ikuyoshi reißt mich aus meinen Beobachtungen.

„Mein Gott, deine Gedanken sind wo anders.", grinst er mich an. „Hast du eigentlich den ganzen Papierkram geschafft? Kiyo will noch die neue Werbung fertig schreiben, wenn er heute Abend kommt."
„Ja, alles erledigt. Kein Problem, Iku." Gerade so... denke ich mir und grinse etwas.
„Du Iku... Sag mal. Hast du eigentlich schon einmal ungewöhnliche Gespräche hier mitbekommen? Wegen... Ren oder mir?" Ich frage ihn unruhig und fast im Flüsterton, als wir volle Tabletts mit gebrauchtem Geschirr in die Küche tragen.
„Was? Wieso? Ne. Nicht wirklich. Ist etwas passiert?" Er ist sichtlich und aufrichtig beunruhigt von meiner Frage.
„Könntest du mir bitte mitteilen, wenn derartige Dinge passieren? Auch wenn ich frei habe? Aki hat mich darüber informiert, dass einige seiner Studienkollegen schlecht über das Café reden. Oder das einige Gäste nur kommen, um mich und Ren zu sehen...", ich bin vorsichtig. „Solche Gäste möchte ich nicht hier haben."
„Naja Ren-Ren ist so süß. Er ist schon fast eine Attraktion wert! Und wenn ihr euch in die Arme nehmt... Hachja... ihr werdet eben bewundert! So einen Familienzusammenhalt haben nicht viele. Und vier Brüder so harmonisch zu erleben, ist ein Kurzurlaub für gestresste Japaner, jaja!", er wirkt wirklich naiv und quasselt freudig vor sich her. Ikuyoshi wie er leibt und lebt.
„Aber Haru-sennnpai. Schlechtes habe ich noch nicht gehört. Ich achte darauf. Ok?", er guckt mich an und haut mir auf die Schulter. Ich glaube ihm. Dieses lang gezogene Suffix am Ende hat er immer in unserer alten Arbeitsstelle benutzt, wenn er ernst mit mir gesprochen hat. „Ok.", erwidere ich. „Geh' ruhig zurück in den Gastraum, ich räume schnell die Spülmaschine ein.", quatscht er weiter.

Ich gehe wieder nach vorne. Ikuyoshi ist nicht der Typ, dem die Leute Ärger machen. Oder gar der Typ, mit dem man Auseinandersetzungen hat. Er würde auch nie eine anfangen oder so etwas auch nur in der Anfangsphase registrieren. Er ist so ein typisch positiver Charakter. Eigentlich war es sinnlos, gerade ihn danach zu fragen. Aber irgendwas musste ich wenigstens machen.

Die Zeit vergeht nur zäh im Gegensatz zum Wochenende. Ich bediene viele Gäste im Wechsel und wische fast alle fünf Minuten den Boden vor dem Eingang trocken, da durch den Regen draußen alles hineingetragen wird – trotz Fußmatte. Um ca. 14 Uhr gucke ich auf die Uhr. Gleich kommt Ren nach Hause. Ich freue mich... aufrichtig. Unser Leben hat sich irgendwie komplett geändert im Vergleich zu letzter Woche.
Momentan ist wieder nur er im Laden. Er sitzt wie heute morgen immer noch am selben Tisch. Mittlerweile arbeitet er an seinem Laptop und hat Papiere in einer ausländischen Sprache vor sich ausgebreitet, die ich nicht identifizieren kann. Zu seiner rechten, der bestimmt zehnte Milchkaffee und ein kleiner Salat. Was macht er nur so lange hier? Irgendwie habe ich ein unbehagliches Gefühl was ihn angeht. Werden meine Ängste wahr und er ist jemand von einer Aufsichtsbehörde? Oder wurde er von Haruko geschickt, weil sie mitbekommen hat, was Ren und ich treiben? Oh Gott, hat er ihr etwa geschrieben? Ich würde es ihm zutrauen... Nein, nein... zu schnell, zu früh.
Aber rausschmeißen kann ich ihn auch nicht. Er bestellt in regelmäßigen Abständen Nachschub. Nach dem dritten Kaffee hatte ich Iku gefragt, ob er ihn bedienen könne. Seitdem beobachte ich ihn aus der Ferne.

„Haru." Mein Herz macht einen Sprung!
„Ren!", ich drehe mich um. Da ist er wieder. Mit den Schulbüchern im Arm, steht er in der Tür, klopft seinen Regenschirm ab und stellt ihn zum trocknen in eine Ecke. „Willkommen zuhause!" Ich strahle ihn an.
„Hi.", sagt er und lächelt auch. Der Mann beobachtet und ich versuche Ren sofort von seinen Blicken wegzulenken.
„Wie war die Schule?", frage ich ihn, umarme ihn und küsse ihn auf den Kopf.
„Zäh und lang.", sagt er wieder.
„Komm, wir gehen nach nebenan. Hast du Hunger? Ich habe heute frischen Reis gekocht. Nur für dich. Salat habe ich auch. Mit Hähnchen und Curry."
Iku winkt uns wie immer durch. Er weiß, dass ich meine Pause mache, wenn Ren heim kommt. Aki und Shima werden bis heute Abend wieder in der Uni sein. Ab 17 oder 18Uhr bin ich zuhause und koche nochmal für uns, dann fängt deren Schicht bei Kiyoka an.

Aber Ren bekommt immer ein gutes Mittagessen nach der Schule. Das war mir wichtig. Einer der Hauptgründe, um ein Café mit schneller und gesunder Küche zu eröffnen. Ikuyoshis Eltern sind Farmer. Wir bekommen fast täglich frische Ware von ihnen, bestehend aus Obst und Gemüse, mit denen ich dann hier die Gäste bekochen kann. Unsere Küche ist zwar klein, aber ich habe alles, was ich brauche. An der Bar vorne sind zudem auch noch Arbeitsflächen, die man nutzen kann. Sei es für Salate oder Wraps, Cocktails oder Obstbecher.

„Ich habe dich heute vermisst.", sage ich zu ihm. Wir sitzen im Pausenraum des White Fangs. Ein kleiner Raum mit einem großen Fenster zum Hinterhof, zwei gepolsterten Sitzbänken und einem Tisch in der Mitte. Die Tür ist hier nur eine Schwingtür, aber durch einen verzweigten Flur nicht einsehbar für den Gastraum. Jeder Mitarbeiter könnte aber umgehend kommen, wenn es voll werden, oder Probleme geben würde. Das war mir wichtig. Immerhin sind wir ein Team. Ich streichle ihm über die Wange.
„Sehr.", füge ich hinzu.
Ren schaut mich an und küsst mich vor dem ersten Bissen.
„Danke, dass du frischen Reis für mich gemacht hast. Ich liebe es jetzt schon.
Itadakimasu~", er lächelt kurz und lieb, faltet seine Hände zusammen und nickt in meine Richtung, dann beginnt er mit dem Essen. Typisch japanisch.
„Enjoy your meal, honey.", zwinkere ich daraufhin zurück.

Der Tag verläuft echt besser, seit ich Ren gesehen habe. Es hat mir etwas Kraft gegeben. Der komische Typ von heute morgen ist auch weg! Super. Es regnet zwar in Strömen, aber das hält die Gäste nicht auf, zu uns zu kommen. Im Gegenteil.
Kiyo ist mittlerweile auch hier und sitzt im Büro und schreibt E-Mails. Er versucht ein paar Events zu planen und schaut, was für ein Programm er abends in der Bar machen könnte, um die Gäste bei Laune zu halten. Sein neuester Tick ist eine Karaoke-Party.
Kiyo ist kein gewöhnlicher Typ. Er hat lange braune Haare, eine schlanke Figur, große Brüste – ja, jeder Fremde würde ihn für eine Frau halten. Aber er liebt es sich so anzuziehen, und so zu leben. Mir ist das völlig egal. Hauptsache er macht seine Arbeit. Mein alter Schulfreund, ach er hatte immer ein Händchen für so etwas. Das White Fang ist bei ihm in super Händen. Trotzdem muss ich noch ein Huhn mit ihm rupfen.

Er sitzt an seinem PC, er hat ein schwarz weißes Maid-Kostüm an. Oh man.
„Kiyo.", spreche ich ihn von hinten an.
„Ach Herr von und zu kommt auch ins Geschehen, ja? Wunderbar. Haste den Papierkram gemacht? Was sagst du zu meinen Ideen?" Argh. Kiyo in Bestform.
„Liegt schon längst in deinem Fach.", antworte ich unbeeindruckt.
„Ich muss mit dir reden.", meine ich ernst.
„Oh, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen, he?"
Er dreht sich zu mir um, schmeißt seine Haare zurück und guckt mich mit einem Hundeblick an.
„Spar dir das alles, Kiyo. Ich war ziemlich wütend auf dich. Ich muss mal was klarstellen – aller Freundschaft zur Liebe."
Ich sehe wie er kurz schluckt. „Habe ich nun deine Aufmerksamkeit?", frage ich ihn. „Nur zu." Er schaut mich an. „Ich liebe Ren. Nochmal ein Wort zu ihm, in dieser Art und Weise und wir haben ein Problem." Die Emotionen sind wie auf Knopfdruck wieder da. „Ganz ruhig Romeo, wenn du das Gespräch mich Ren meinst, ich wollte deine Julia eben nur testen. Chill' aber mal, er ist nur dein Bruder. Was regt dich so auf? Weil er auch adoptiert ist und ne' scheiß Vergangenheit hat, wie du? Er lebt doch noch, also... ergo... anscheinend hat er mein Verhör ja überlebt." Er zuckt mit den Schultern. Irgendwie steckt da Kiyo's Art drin, mir zu sagen, dass er mich gern hat.
„Ren ist nicht mein Bruder.", stelle ich klar. Er hebt die Augenbrauen.
„Ja, sowas hab' ich mir gedacht, man. Ich weiß... aber dennoch... du kleiner, mieser Perversling. Aber was soll ich schon dagegen ausrichten?!" Er tut so, als würde er von mir angeekelt sein. Er spielt das in höchst verhöhnender Manier auf. Ich weiß, dass er es ironisch meint, aber es nervt mich dennoch.
„Kein Spaß jetzt Kiyo. Ich bin sauer. Ren ist nicht mein Bruder. Er ist mein Partner. Ich meine es so. Es ist kompliziert. Aber ich will nichts mehr von dir hören. Wir haben unsere Vergangenheit, also kenne du auch deinen Platz." Er überlegt. Sein Gesicht wird fester. „Ihn willst du, mich nicht?" Ich seufze sofort. Das schon wieder.
„Ich habe dir meine Gefühle gestanden, als wir jünger waren. Mich hast du abblitzen lassen. Was hat er, was ich nicht habe?"
„Das ist 1000 Jahre her, Kiyo. Ich hatte damals nicht den Luxus mich um meine eigenen Bedürfnisse scheren zu können, es war kompliziert. Mit Ren ist es eben anders. Du hast meine Antwort damals akzeptiert. Ich war ehrlich, wir wurden Freunde, also komm nicht jetzt damit an. Kannst du das akzeptieren, oder nicht? Kein Spaß jetzt. Sag deine Antwort."
Ich versuche hart und massiv zu klingen, er kennt mein weiches Herz. Für ihn muss mein ganzes Auftreten ironisch wirken. Was es aber definitiv diesmal nicht ist! Er scheint es zu merken, glaube ich..., denn er schaut mich mit großen Augen an.
„Du bist mein bester Freund. Kannst du, oder nicht?", frage ich erneut.
„Ist ja gut, Romeo. Alles Roger." Er seufzt und lächelt kurz darauf.
„Dich hat es ja total erwischt, das habe ich nicht realisiert bisher." Ich nicke ihm zu.
„Kiyo, noch was. Mach so viel Karaoke oder sonst was... wie du willst. Ich bin allerdings nicht deine Attraktion. Und Ren ebenso nicht. Keiner von meiner Familie. Nicht Aki, nicht Shima. Nicht mal der Hund." Diesmal ist mein Blick starr und ernst. So ernst wie noch nie zuvor. Ich spiele auf Akis und Shimas Gespräch an. Auch wenn er nichts davon weiß, er versteht 1:1, was ich von ihm will.
„Alles klar Chef, Botschaft angekommen. Ehrlich. Es tut mir Leid." Er guckt mich an – als Seiji Takamori, sein echter Name, nicht als Kiyoka.
„Alles klar. Ich bin kurz im Bad, danach können wir die Sachen durchgehen."
Ich gehe raus und lehne mich an die Wand im Flur. Mein Herz rast und kalter Schweiß läuft mir die Wirbelsäule und die Stirn herunter. Man, ich kann so etwas nicht gut. Ich hoffe die Botschaft ist angekommen. Mit Kiyo schon gar nicht. Es ist so schwer, bei seiner Art hart zu bleiben. Ich atme tief ein und aus und die Flurwand ist so schön kühl, dass es beruhigend auf mich wirkt. Ich greife in meine Hosentasche, irgendwo hatte ich noch ein Taschentuch...

Anstelle des Taschentuches ziehe ich einen weißen Zettel heraus und mir wird augenblicklich unbehaglich. Yuna. Die Heiratsanfrage... das ist ja auch noch im Raum! Nicht heute... das muss ich erst einmal Ren beibringen.
Ich schaue auf die Uhr. 17:45... Ich schaue auf Kiyos Bürotür. Super. Das wird nichts heute.

Um kurz nach sechs betrete ich erneut Kiyos Büro.
„Sorry, ich war noch nebenan und habe den Jungs Bescheid gesagt, dass es länger dauern wird und ihnen Reis und Curry gebracht.", entschuldige ich mein Zuspätkommen und widme mich unseren geschäftlichen Pflichten.

Es ist kurz nach Mitternacht als ich mich zu Ren ins Bett schleiche. Die Wohnung war leer und dunkel. Aki und Shima sind ebenfalls am schlafen. Jedes Licht im Haus ist erloschen. Ren liegt wie ein Engel auf meiner Seite, mit meinem Shirt in der Hand. Er schläft tief und fest. Mein Bauch dreht sich einmal gegen den Uhrzeigersinn. Mein Gott, seine Wirkung auf mich ist zu krass. Verlegen von meinen Gedanken, husche ich zu ihm ins Bett, ziehe ihn auf mich, decke uns beide zu und küsse seinen Kopf.
„Ich liebe dich unendlich.", flüstere ich ihm zu und schließe auch meine Augen. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn zu wecken.

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Hochgeladen am 22.06.16
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