54. Du und ich

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Es ist ein komisches Gefühl, als Ren Kaidô vorgestern in dieses Gebäude gegangen zu sein, und heute als Ren Parker wieder heraus zu gehen. Jeder Schritt fühlt sich komisch an. Ungewohnt, und dann wieder echt, dann wieder komisch, dann falsch. Dann wieder genau richtig und befreiend. Dann zerschmetternd - aber dennoch wirklich befreiend, weil ich das habe, was ich wollte. Einen Namen.
„Ren?" Owens Stimme. Sie reißt mich aus meinen Gedanken und ich schaue auf zu ihm, weg von meinen Füßen. „Du läufst noch irgendwo vor, wenn du die ganze Zeit den Boden anstarrst. Wir müssen nicht fahren, wenn es dir zu viel ist.", sagt er vorsichtig mit einem leicht besorgten Touch in der Stimme.
Er trägt seinen scheinbar besten und gestriegelsten Anzug mit all seinen Orden und Auszeichnungen. Owen hat mir auch seine gesamte Geschichte erzählt. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich es aber nicht mehr wiedergegeben, was er wofür verliehen bekommen hat und warum er ein Master Gunnery Sergeant wurde und zur Zeit sogar kurz vor der Rente steht. Nur ein paar Jahre später wäre es wohl nicht mehr so einfach gewesen ihn zu finden. Einerseits tut es mir Leid nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, allerdings muss ich auch Prioritäten setzen. Und nicht durchzudrehen ist eine von diesen Prioritäten. „Entschuldige.", sage ich trocken. „Wir fahren auf jeden Fall, es sind immerhin meine Eltern und ich habe ihnen mein Leben zu verdanken. Ich möchte ihnen sowohl die Ehre erweisen und an ihr Grab treten, aber ich möchte auch dass es real und greifbar wird. Dazu muss ich dort sein." „Okay, Junge. Wenn du beim Haupteingang links rausgehst, ist da eine kleine Wartezone mit Bänken. Ich muss kurz telefonieren und hole die Schlüssel für einen Wagen. Dann können wir los. Okay?"
„Okay.", sage ich und blicke wieder meine Füße beim laufen an, als ich Richtung Wartebereich gehe. Jeder Schritt ist faszinierend. An der Schwelle nach draußen mache ich kurz Stopp.
Ren Parker also... okay.

Ich gehe einen Schritt nach vorne und atme tief durch, als mir die frische Luft und der Sonnenschein ins Gesicht strömt. Alles klar. Auf in ein neues Leben...

Der Himmel ist ziemlich bewölkt, mal scheint die Sonne und mal wird es grau, man merkt den Umschwung zum Herbst, der mit großen Schritten kommt. Es ist warm, aber ich bin froh über meine Jacke zum überziehen. „Bald sind wir Zuhause.", sage ich sanft zu Kuro und Tanuki. „Nanami vermisst euch bestimmt total.", sage ich weiter sanft und grinse leicht, als Kuro ein kleines Seufzen von sich gibt. Immerhin ist es Nanami, die ihm im wahrsten Sinne des Wortes gerne die Ohren lang zieht. „Sie wird älter. Das lässt nach.", sage ich zuversichtlich zu ihm, woraufhin er wie üblich seinen Kopf auf meine Knie legt und sich den Bereich zwischen seinen Augen genüsslich kraulen lässt. „Wir fahren jetzt zu dem anonymen Grab von meiner Mutter. Es gibt besondere Stadtfriedhöfe hier in Seattle. Die Segmente sind nach Jahren aufgeteilt und nach Daten und Nummern der jeweiligen Krankenhäuser. Man kann nach und nach die Segmente ausschließen und ermitteln. Owens Assistent hat mit dem Krankenhaus telefoniert. Es ist interessant was man alles erfährt und wen man alles erreicht, wenn man einen wichtig klingenden Namen und die richtige Position hat." Ich kraule weiter zwischen seinen Augen und hebe Tanuki zu mir auf die Bank. „Ich alleine hätte das sicher nicht herausgefunden. Aber wenn ein Master Gunnery Sergeant vom Militär anrufen lässt und Druck macht, findet man die exakte Position und Nummer für Leiche XY, gestorben an Tag XY. Faszinierend, nicht wahr? Ich bin ihm dankbar. Keine Frage.", ergänze ich, als Tanuki mich fragend anschaut. „Als würdet ihr mich verstehen, ihr Süßen. Ja, wer ist süß?!" „Ren. Komm. Der Zeitplan ist straff.", sagt Owen, der plötzlich mit einem jungen Mann hinter sich vor mir steht. Er lächelt freundlich. „Mein Assistent fährt uns.", sagt er weiter und ich schaue zu dem mir noch nicht bekannten Gesicht, an Owen vorbei. Locker zwei Köpfe kleiner als ich und schmal gebaut, vielleicht in meinem Alter. „Er macht hier eine Ausbildung im Büro. Private Joseph Welsh. Joseph, das ist Ren." Ich stehe auf und gehe einen Schritt auf ihn zu, Tanuki und Kuro laufen hinter mir her. Ich gucke Joseph an. Er wird auf Knopfdruck rot. „Danke, dass Sie uns fahren, Joseph. Mein Name ist Ren... Parker.", oh wow. Ich habe es laut gesagt. Joseph ist der erste, der mich also mit meinem echten Namen kennenlernt. „K- keine... Ursache... Mr. Parker. Sir..., Ren.", er stottert etwas und wird noch verlegener als zuvor.
Haru würde ihm innerhalb von Sekunden vorwerfen, auf mich zu stehen. Er hat ein außergewöhnliches Talent dafür, das sofort zu erkennen und auch eines, tagelang auf den angeblichen Fakten herum zu reiten. Ich bekomme das scheinbar nie mit, da ich nicht auf so etwas achte... aber Haru ist sich immer sehr sicher. In den letzten Jahren mit ihm, hat er mir listenweise Dinge aufgezeigt, woran ich das erkennen könne. Natürlich hauptsächlich, damit ich dann abweisende Signale senden soll. Ich grinse leicht. Er ist so eifersüchtig. So unnötig eifersüchtig und unheimlich kitschig. Ich liebe es. Rot werden, wäre definitiv ein Punkt von Harus Liste. Ich schaue Joseph flüchtig an. Er starrt auf den Boden. Wenn er mir nun ausweicht, hat Haru wohl Recht. Würde ein Ren Parker so selbstbewusst sein und das testen? Hm. Ich nicke mit dem Kopf und Tanuki und Kuro folgen mir, als ich mich dazu bewege, Owen zu folgen der schon auf dem Weg zum Auto ist. Ich schaue Joseph diesmal richtig in die Augen, als er sofort reagiert und zur Seite springt und wegschaut, als ich an ihm vorbei gehe. Hm. Okay. Haru hat Recht.

Ich schmunzle etwas betäubt und das Gefühl, endlich wieder bei Haru sein zu wollen, schnürt mir weiter die Kehle zu.

Die Fahrt über spreche ich kaum ein Wort. Owen sitzt vorne auf dem Beifahrersitz und ich frage mich flüchtig, warum ein Fahrer mitkommen musste, der wahrscheinlich eh besseres zu tun hat. Ich versuche meine Gefühle zu sortieren, doch ehe ich in einem Gedanken hänge, reißt er auch schon wieder ab. Vielleicht muss es ja auch nicht nur ein einziges greifbares Gefühl sein, eine Wahrheit quasi. Vielleicht ist es ja auch so, dass es normal ist, so durcheinander zu empfinden. Es ist ja nicht so, als hätte ich eine tiefe Bindung gehabt und wäre tottraurig. Vielleicht ist es normal eine gewisse Traurigkeit zu empfinden, gleichzeitig aber auch eine Art Erleichterung und etwas Glücksgefühl meinem Traum näher gekommen zu sein. Befreiend, nicht mehr vor dem Ungewissen zu stehen aber erschrocken über die Tatsachen. Ich weiß es nicht, und ich glaube es auch nicht so schnell sortiert zu bekommen. Das Vermissen Haru gegenüber ist so heftig, dazu mein Magen, der sich nicht zu entscheiden weiß, die Lust auf Haru wenn ich nur an ihn denke, mich wieder fallen zu lassen und diese ganze Reise für einen Moment vergessen zu wollen, die Scham und Schuld auf dem Weg zum Grab meiner Mutter überhaupt solche Lust zu empfinden. Pures Chaos. Zudem hatte ich die Hoffnung mich wieder erinnern zu können, wenn ich Dinge herausfinde und sogar Bilder sehe so wie Haru damals seine Erinnerungen zurück bekam. Bilder, auf denen auch ich zu sehen bin. Eindeutig! Aber... nichts. Keine aktive Erinnerung. Wovor will mich mein Geist mich schützen? Und ist es vielleicht besser so, da ich eigentlich ja nun alles weiß? Irgend etwas in meinem Körper scheint nein zu sagen. Vielleicht sollte ich das akzeptieren?

Einfach Chaos...

„Wir sind gleich da Ren. Ich kann dir gerne noch bei weiteren behördlichen Gängen helfen. Ich kann auch nochmal alle alten Unterlagen heraussuchen. Deine Mutter hat zwar die Originale nach dem Tod deines Vaters mitgenommen, aber ich glaube, dass auch noch Kopien und andere Dinge in den alten Kisten sein müsste. Ich hab nie etwas weggeworfen. Die Chancen stehen nicht schlecht. Außerdem bin ich dein Zeitzeuge und habe Beweisfotos. Ich kann dir definitiv helfen. Ja, so machen wir es.", spricht Owen von vorne zu mir und den Hunden auf die Rückbank. Natürlich, das wäre vorteilhaft. „Danke, ja.", sage ich nur und schaue wieder aus dem Fenster.
Natürlich ist es mir klar, dass mich nur Parker zu nennen nichts bringt. Natürlich muss ich auch die passenden Behördengänge dazu erledigen und meine Dokumente umändern lassen. Aber damit möchte ich mich nicht jetzt befassen.
Owens Stimme reißt mich erneut aus meinen Gedanken. „Ich möchte dich gerne besser kennenlernen, Junge. Darf ich dich eines Tages mal in Japan besuchen kommen? Und sehen, wo du wohnst und wie du lebst? Naja, und deine Familie kennenlernen? Ich möchte, dass Will ein Teil von mir bleibt. Und ich möchte, dass du ein Teil von mir wirst." „Ja. Gern.", sage ich leise. „Entschuldige Owen. Es ist alles etwas viel. Aber ja. Ja Owen, das möchte ich und das bekommen wir hin. Wir haben viel Platz und freuen uns immer über Besuch.", sage ich aufrichtig und sehe im Rückspiegel, dass er bis über beide Ohren grinst und sich ebenso aufrichtig freut. Er dreht sich zu mir. „Alles klar! Klasse. Ich bin so froh, dass wir uns gefunden haben. Ich möchte dir wirkl-", ich unterbreche ihn. „Owen. Wir machen das. Ehrlich. Ich würde mir auch wünschen, dass du ein Teil unserer Familie wirst. Du bist doch schließlich Familie."
Seine Augen werden wässrig und er nickt. „Danke.", sagt er und dreht sich wieder nach vorn. „Gleichfalls.", antworte ich. „Die Straße ist vorne, Mr. Welch.", füge ich trocken hinzu und erwische ihn, wie er mich durch den Rückspiegel die ganze Zeit beobachtet. Er schaut wieder direkt weg und ich seufze.

~

„Nummer 317. Das müsste es sein."
Ein kalter Schauer fährt mir über den Rücken, als ich auf das Stück nichtssagende Rasenfläche schaue, auf dem eine winzige Plakette mit einer Nummer eingraviert, eingelassen ist. Das ist es also?
Ich schaue mich um. Owen und sein Assistent unterhalten sich mit dem Friedhofsplan über die Reihen und Nummern. Aber sie nicken beide, als sie meinen fragenden Blick sehen. Weit und breit nichtssagende Rasenfläche. Kein Baum. Keine Grabsteine, keine Blumen, Büsche, Erinnerungen. Nichts. Wir befinden uns einfach nur auf einer riesigen, eingezäunten Wiese, vor der ein Parkplatz ist. Einzig ein Schild mit der Aufschrift "Ruhestätte Areal 3 der Stadt Seattle" weist auf einen Friedhof hin. Und die kleinen weißen Nummerplaketten. „Ich bin etwas erschüttert.", sage ich ehrlich als ich mich weiter umschaue und mich dann nach einer Weile hinknie, um die 317 mit meinen Fingern nachzumalen.
„Es sind anonyme Gräber. Die bittere Wahrheit, Junge. Mir ist auch schlecht. Ich werde in der Stadtverwaltung fragen, ob ich ihre Urnenkapsel ausheben lassen kann. Dann möchte ich sie gerne nach Japan bringen. Zu ihrer Familie. Ich will nicht, dass sie noch länger anonym hier im Rasen verweilt, wo der einzige Besuch der Mäher der Stadt ist. Es tut mir so Leid, Junge. Das hat sie nicht verdient." Owen schaut sich auch um und versucht diese Wiese irgendwie zu greifen. Er klingt ebenso schockiert wie ich. Und sehr traurig. „Und du bist dir sicher, dass sie die Nummer 317 ist?", frage ich erneut. Es ist so unwirklich! „Todestag, Sterbeort, Unterschrift von Martha Tremblay und Dr. Kien White. Unbekannte Frau, Asiatin, vielleicht japanischer Herkunft. Die... angegebene Wartezeit. Ort der Einäscherung,... mhh nein. Es gibt keine Verwechslung, Junge. Das passt. Nummer 317. Es steht hier schwarz auf weiß." Er streckt mir die Liste und seinen Zettel mit Informationen entgegen. Ich nicke und wende mich wieder der 317 zu. „Ok. Dann hol sie da raus, ich möchte, dass sie nach Hause kann, Owen. Bitte." Ich denke an die Frau mit den langen und glatten Haaren, die Frau mit dem wunderschönen Lächeln und einem Baby im Arm. Er nickt.
„Hi Mum. Owen kriegt das hin. Du kannst bald nach Hause.", spreche ich zur 317, während Owen hörbar zusammensackt und mich von der Seite umarmt. Ich lasse es zu und wir bleiben eine Weile einfach so sitzen.

Später auf dem Weg zum Militärfriedhof sage ich nun wirklich kein einziges Wort. Es reicht mir. Ich kann auch nichts mehr denken. Und ich will nach Hause.

„Bevor wir aussteigen, Ren... dieser Friedhof ist dem vorherigen ähnlich. Es stehen aber Kreuze mit Namen darauf. Und ich weiß, wo er liegt. Ich habe ihn schon etliche Male besucht. Es gibt nur wenige Bäume, da dieser Platz auch nur gemäht wird, aber dein Dad liegt unter einem davon. Das fand ich damals sehr schön. Er hatte eine richtige Beerdigungsfeier mit Salutschüssen und allem drum und dran. Vielleicht erinnerst du dich. Du warst damals dabei."
Kleine Metallschläge in unregelmäßigen Abständen wecken meine Aufmerksamkeit und ich realisiere, dass die Wechselwolken keine mehr sind und es zu regnen beginnt. Ich schaue aus dem Fenster und atme nochmal durch. „Okay, ihr bleibt im Auto.", sage ich zu Tanuki und Kuro und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und stelle den Kragen auf. Als ich aber rausgehe und die Tür hinter mir schließe, bellen die beiden so laut, dass ich mich dazu entschließe sie trotz Regen mitzunehmen. „Du kannst nicht in meine Jacke und einen Regenschirm habe ich nicht.", sage ich zu Tanuki, der mich mit dem Blick auf den Regen nur noch halb entschlossen anschaut, aber dennoch aus dem Auto hüpft. Innerlich bin ich erleichtert, dass sie mit wollen.

Owen und Joseph laufen vor und führen mich durch etliche Kreuze hindurch zu einer großen Eiche. Sie bleiben einige Meter davor stehen und Owen schaut mich an. Er umarmt mich. „Du bist großartig, Junge. Geh' und sagt deinem alten Herrn Hallo von mir, ja?" Er drückt mich fest an sich und lässt nicht los. „Wir sehen uns heute Abend. Ich werde noch ein paar Telefonate führen und dann kommt einfach wieder in die Base. Ihr könnt auch beide bei mir schlafen. Ich möchte nicht, dass ihr ein Hotel nehmt. Wie gesagt. Das Mietauto werde ich schon wieder los und Joseph wird deine Sachen rausnehmen. Mach' dir um nichts Sorgen ja? Hab' dich lieb, Junge. Und nun geh." Er lässt mich los und geht mit Joseph nach rechts zur Seite weg. Verwirrt gucke ich die beiden an. „Und wie soll ich wieder zurück kom-", „Mit mir."

Mein Herz bleibt stehen und rast zugleich. Ich drehe mich blitzartig um und mir schießen sofort die Tränen in die Augen, als ich nicht nur seine Stimme im ersten Ton erkenne, sondern ihn auch sehe. Tanuki und Kuro bellen wie wild und ich renne die zwei Meter, die mich noch von ihm trennen in seine Arme. „Oh Haru.", weine ich in seinen Hals hinein, während ich ihn halb zerdrücke und meine Beine fast versagen. Er hält mich fest und stützt mich mit einer Hand, während er mit der anderen einen Regenschirm über uns hält.
„Oh Ren." Sagt er und drückt seinen Kopf an meinen. Ich weine bitterlich. Ich küsse seinen Hals und löse mich etwas, schaue ihm ins Gesicht und fasse es mit beiden Händen, streichele etwas darüber. „Du bist hier.", sage ich leise. „Tut mir Leid, dass ich solange gebraucht habe. Es war zwar ein Direktflug... aber trotzdem. Deine Stimme gestern morgen... als ich dich so erlebt habe, habe ich aufgelegt und bin direkt los." Er schaut mich an. „Ich liebe dich so sehr." „Ich liebe dich auch so sehr.", antworte ich und küsse ihn voller Sehnsucht und ich spüre, wie er mich noch fester zu sich zieht. Nie wieder ohne ihn. „Du und ich. Für immer.", sage ich. „Immer.", antwortet er.


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Hochgeladen am 5.10.18
Nächstes Mal: Aufatmen

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