42. Verhandlung

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Als wenn ich dich nicht bemerken würde... Du bist doch meine Mutter.

Bewusst versuche ich tief ein und auszuatmen. Ren ist da, ich sollte mich heute nicht mehr von ihm entfernen. Er ist wie mein Rettungsanker. Ich lege bewusst meinen Arm um seine Schulter. Ich liebe dich so sehr, du Schlitzohr. Du hast mit Mikiko gesprochen... ich fasse es nicht. Wann? Wo? Warum? Naja, ich kann mir denken, wieso...
Als wir den Gang zum Büro zurück laufen, kneife ich ihm neckisch in die Schulter und muss schmunzeln. Ren bemerkt es und lächelt sanft zurück. Mein Gott, deine ganze Erscheinung ist die pure Liebe. Man muss dich lieben. „Alles wieder ok?", fragt er mich, als mein Blick etwas zu lange an ihm haften bleibt. „Gerade ist alles bestens." Er schaut mich an und grinst. Sein Blick klebt ebenfalls etwas zu lange an mir - und ich verdrehe nur kurz die Augen. „Es ist der Zopf, der dich verrückt macht, oder?", frage ich grinsend, weit außerhalb der Hörweite, der im Flur schmollenden Haruko. „Jap.", kommt es knapp aus ihm, inklusive meiner schon fast versprochen Röte in seinem Gesicht. „Warst du immer schon so, oder habe ich dich so verdorben?", frage ich gespielt entsetzt. „Eine Mischung aus beidem, glaube ich.", antwortet er, mittlerweile rot wie eine Tomate.

Ablenkung ist gut. Andere Gedanken sind gut. Aufmunterung ist gut. Nur noch heute. Nur noch diese Verhandlung. Gute Stimmung ist gut. Das in den Toilettenräumen ist Vergangenheit, Panikattacken sind Vergangenheit.

Ich bleibe stehen, als wir die Tür zum Büro erreicht haben und zögere einen Moment. Ren schaut mich an. „Ren, ich danke dir für alles. Ehrlich. Von Herzen. Ich glaube, das war's jetzt an Panikattacken und Gefühlsausbrüchen. Es reicht. Es ist Schluss nun. Ich habe dich! Eben auf der Toilette sind mir einige Dinge klar geworden. Das einzige was mich beruhigt, bist du. Du bist echt alles für mich... ", ich schaue ihn eindringlich an und packe seine Hände. „Wenn wir hier fertig sind, will ich nach vorne schauen, Pläne machen. Pläne, die dich und mich betreffen. Solche, die von der Zukunft handeln, die ausschließlich...", ich drücke seine Hände fester, „ ausschließlich dich und mich betreffen." Ohne seine Antwort oder Reaktion abzuwarten, schaue ich selbstbewusst und erhobenen Hauptes nach vorne und öffne die Tür zum Büro.
Mikiko sitzt am Schreibtisch und schaut mich an. Genau wie Shima und Aki. „Ah, gut dass ihr wieder da seid. Oh, Zopf? Alles klar, sieht professionell aus. Gut. Ja, also... es sind alle da. Wir können in 15 Minuten eintreten. Noch irgendwelche letzten Fragen?"

Der Saal in dem wir uns nun einfinden durften, ist ein wahnsinnig hoher Raum. Ebenfalls aus diesem grauen und massiven Stein. Wie von außen. Die Bestuhlung, die Tische und anderen Möbel sind aus dunklem Holz und Glas gebaut. Man sieht, dass alles Handarbeit war. Kleine Details, egal wo ich hinsehe. Sonst gibt es nichts. Keine Dekoration, keine Pflanzen, keine Bilder. Es ist atemberaubend riesig und schlicht. Und ich habe wahnsinnigen Respekt.
Auf der linken Hälfte des Saals befinden sich am Anfang des Raumes drei Sitzreihen, danach kommt eine Glasabsperrung. Davor ist unser Tisch aufgebaut mit zwei Stühlen, die ebenfalls nach vorne ausgerichtet sind. Mikiko sitzt rechts von mir im Gang. Ich sitze links, an der Wand. Unsere Plätze sind mit kleinen Mikrofonen bestückt, dazu steht ein Tablett mit zwei Gläsern und einer Karaffe Wasser bereit. Die Stuhlreihen hinter uns sind alle bis zu zwei Metern auseinander geschoben. Sie stehen einzeln da, ganz ordentlich und stilistisch, eigentlich genau wie unser Tisch und unsere Stühle. Es ist geradlinig und akkurat. Vor unserem Tisch sind nochmals mehrere Meter Platz gelassen, nachdem sich dann ein riesiges Richterpult in die Höhe ragt. Es ist leicht gebogen und bildet einen offenen Halbkreis, an dem bis zu zehn Personen Platz nehmen können. Jeder dieser Plätze ist ebenfalls mit einem Mikrofon eingerichtet, sowie leeren Wassergläsern und einer Karaffe Wasser. Jeder dieser Plätze ist noch leer.
Die rechte Seite des Raumes ist exakt genau zu unserer gespiegelt. Zwischen unseren Tischen, befindet sich in der Mitte des Ganges, allerdings noch eine weitere und höhere Glasscheibe. Sie wirkt wie eine Abgrenzung zwischen Täter und Opfer. Und eigentlich... ist mir diese Glasscheibe auch sehr recht.

In der Reihe hinter uns, sitzen Ren, Aki, Shima, Haruko, Shougo und Inamori. Auf seiner Seite sitzt Kobayashi, der mich noch keines Blickes gewürdigt hat, sowie seine Frau. Ebenfalls steht auf... seiner... Seite noch ein dritter Stuhl, neben dem, den er eigentlich meiner Schlussfolgerung zufolge, einnehmen müsste. „Die Kläger dürfen den Raum als erstes beanspruchen, eine Seite aussuchen. Dann dürfen Zeugen und Mitbeteiligte beider Seiten eintreten. Danach kommen die Richter. Erst zum Schluss, werden der oder die Angeklagten vorgeführt. Kein Publikum, keine Presse heute. Daher sind auch nur so wenige Stühle aufgestellt worden.", spricht Mikiko sehr leise zu mir und wollte wohl meine fragenden Blicke beantworten. „Ich mag diesen Saal. Es ist ein guter Saal.", sagt sie weiter. Ich kann nicht mehr tun, als zu nicken. Ich glaube ihr. „Gleich bin ich Kasiwagi-san, okay Kaidô-san?", sagt sie erneut. „Alles klar, Mikiko.", nicke ich erneut. Mir wäre auch im Traum nicht eingefallen, sie vor so vielen Leuten nur mit ihrem Vornamen anzusprechen, und auch noch ohne Titel. Es war schon eine Umgewöhnung für mich, als sie mir nur ihren Vornamen angeboten hat. Sie lächelt mich an. Und nickt auch mehrfach. Zustimmend und beruhigend. Dabei kommt ihre schrullige Art etwas durch. Am liebsten würde sie mich glaube ich drücken. Es muss ihre wirkliche Art sein... Sie ist mit Sicherheit einer dieser Menschen, die alle am liebsten umarmen würde, es aber nie in der Art zeigen würde. Ich war erstaunt, dass sie Haruko so um den Hals gefallen ist. Ich kenne sie nicht nur nicht so, sondern es hat mich auch wieder erstaunt, was für eine intensive Freundschaft die beiden verbinden muss.

Ich atme noch einmal tief ein und aus, so wie schon mehrfach die letzten Tage und Stunden. Gleich ist es geschafft. Und gerade, als sich mein Herzschlag etwas beruhigt, öffnet sich die Tür von hinten und alle Köpfe drehen sich wie automatisiert herum. Auch meiner.

Mehrere Richter betreten schnellen Ganges den Raum, zügig nicken sie jedem kaum merkbar zu, scheinen fast zu schweben mit ihren langen, schwarzen Roben. Alle der Herren sind Japaner mittleren Alters. Klein, teils grau. Einer der Herren sieht furchtbar grimmig aus, die anderen beiden sehen hingegen aus, als seien sie Professoren an der Uni und würden Physik lehren. Ich mag sie auf Anhieb. Ein junger Mann kommt hinterher gestolpert. Er hat einen Anzug an, wirkt hektisch und setzt sich sofort, ohne jemanden anzuschauen, neben die Richter und klappt einen Laptop auf. „Das ist der Mitschreiber. Er protokolliert alles.", flüstert Mikiko kaum hörbar und fast bauchrednerisch zu mir, mit starrem Blick nach vorne.

„Guten Tag. Mein Name ist Genzô, richtende und ausführende Kraft heute. Das sind meine Kollegen und der Protokollführer. Fall Kaidô, Haru gegen Takahata, Akito. Die Verhandlung ist eröffnet. Setzen Sie sich, bitte. Die Angeklagten treten gleich ein.", sagt der in der Mitte sitzende Uni-Professoren-Richter und schaut jedem persönlich in die Augen. Danach stellen sich die anderen drei vor.
Meine eingeredete Coolness schwächt zunehmend ab und als wir uns setzen dürfen, sacke ich schon zusammen, kaum dass der Richter es erlaubt hatte. Ich wage es auch nicht mehr, mich mit umzudrehen, als ich höre, wie sich erneut die Türen öffnen. 'Erst kommen die Mittäter', höre ich innerlich Mikikos Stimme. Als ich doch einen Blick wage, sehe ich Uyeda und Gondô Itou, wie sie in den hinteren Reihen der Zuschauer-Sitzreihen Platz nehmen. Begleitet von zwei Polizisten. Mittlerweile kenne ich ihre Namen, habe auch die Fotos der Festnahme gesehen und weiß, dass die beiden anders als Akito, nur die regulären 20 Tage in Untersuchungshaft saßen, dann aber bis zur Verhandlung auf den freien Fuß gesetzt wurden. Wenn ich in ihre Gesichter schaue, sehe ich nichts. Es ist verwaschen und verzerrt. Wie böse Fratzen.
Als sich die Tür erneut öffnet, fängt dann auch endlich die letzte Instanz meines Horrortrips an.
Ein schlanker kleiner Mann läuft vorne weg. Es muss der Anwalt sein, da er allen, sowie den Richtern freundlich zunickt. Nur mir nicht. Zuletzt läuft ein Polizist. Und in deren Mitte läuft er. Akito

Sein Blick durchsucht den Raum. Er ist still und seine Stimmung weiß ich nicht zu deuten. Als seine Augen mich finden, werden sie allerdings wild. „Hey! Was geht Alienfresse?!", lacht er zu mir - aber es lässt mich kalt. Vielleicht habe ich meine Emotionen für heute aufgebraucht, vielleicht aber, fühle ich mich auch einfach nur geschützt und behütet. Ich lächle etwas. Es fühlt sich irgendwie an, wie ein
„Das hilft Ihnen nicht weiter, Takahata-san. Seien Sie einfach still.", zischt sein Anwalt zu ihm herüber. Mikiko hat augenblicklich ein belustigten Ausdruck in den Augen. „Das war's wert. Und guck ma' da. Noch so Behinderte." Er schaut diesmal in die andere Richtung. Er redet anders, als damals. Er redet wirr, verrückt. Ich weiß nicht, wen genau er meint, aber vielleicht spricht er auch einfach alle an.

Zu meinem Erfreuen fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich hatte solche Angst, aber es ist eher ein befreiendes Gefühl. Mikikos Grinsen in den Augen zu sehen, Akitos schlechtes Verhalten vor Polizisten und Richtern, dazu noch den Mitschreiber schnell-tippen zu hören, beruhigt mich. Ren...
Ich drehe mich um, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Mikiko hat es mir verboten, aber ich kann nicht widerstehen. Es sei nicht höflich... Seine Augen bohren sich sofort in meine. Sein völlig expressionsloses Gesicht, verrät durch seine Augen nur mir seine Stimmung und Botschaft. Ich liebe dich... Ja, jetzt geht es mir besser! Ich kann es schaffen heute. Ich werde es schaffen. Nein, wir werden es schaffen.

Als sich der Anwalt, Akito und der Polizist gesetzt haben, beginnt der Richter den Tatvorwurf vorzulesen.

Er würde alle Straftaten, einzeln und nach Schwere sortiert, auflisten und vorlesen. Danach die, von den Itou-Cousins und Mittätern von Akito. Der Tathergang würde beschrieben, die Zeitabläufe erörtert und die Protokolle und Berichte der Polizisten des Ermittlungszeitraums beschrieben und verlesen werden. Auch alle Krankenakten und Verletzungen werden schriftlich und durch Fotos dargestellt. Für alle sichtbar. Wenn dann alle Fakten auf dem Tisch wären, würden die Personen befragt. Nicht nur der Aktienhandel, illegale Aufnahmen und Vertrieb nicht jugendfreiem Materials, Waffenbesitz, Erpressung, Drogenbesitz und Konsum, sowie Entführung und Körperverletzung in mehreren Fällen... nein, dazu noch Beleidigung. Nicht nur mir gegenüber, sondern auch Ren und den Cousins gegenüber. Die Staatsanwaltschaft würde alle Vorwürfe erheben. Für jeden. Es ist alles genau, wie Mikiko mir erklärt hat. Bei Fragen zur Richtigkeit, gibt sie zudem souveräne und selbstbewusste Antworten, weiß wirklich jedes Detail der Akten auswendig und leitet sie sofort weiter. Mikiko war im Vorfeld der Überzeugung, Akito würde kein Wort sagen und die Aussagen verweigern. Und das, obwohl es strafmildernd wäre, allerdings sei er nicht der Typ dafür. Und ich kann nur hier neben ihr sitzen. Nicht nur völlig erstaunt von der neuen Seite, die ich gerade kennenlerne, sondern auch von ihren gesamten Vermutungen, die sich nun bewahrheiten. Uyeda und Gondô würden sofort alles preisgeben, Angst haben. Und es ist wirklich so. Kobayashi würde alles abtun und einen auf unschuldig machen. Und es ist so. Seine Frau würde keinen Ton sagen. Und auch dies trifft zu. Man könne ihr den Deal mit Akito und dem Heiratsversprechen nicht nachweisen. Man würde das fallen lassen müssen. Und auch das ist genau so, wie sie sagte -
und die Zeit verfliegt wie im Flug. Ich kann mir gar nicht alle Einzelgespräche merken, es scheint in Schallgeschwindigkeit an mir vorbei zu ziehen. Das einzige, was mich komplett einnimmt, ist das wahnsinnig überwältigende Gefühl, als würden unendliche Lasten von meiner Brust verschwinden. Als könnte ich wieder atmen! Ein Gefühl absoluter Gleichgültigkeit breitet sich in mir aus. Durchströmt jede Blutbahn und jede Nervenzelle, wie eine warme Flüssigkeit. Und es ist keine Flüssigkeit, die etwas überspielt, verfälscht und übertüncht, es ist eine ehrliche und gute Flüssigkeit. Eine solche, die mich daran erinnert, wie die Realität ist.

Es erscheint mir lustig, dass wir nun hier sitzen. Mich freut es, dass Akito sich so dermaßen daneben benimmt. Ich weiß nun, warum der dritte Stuhl in seiner Reihe für einen Polizisten reserviert war. Zum aufpassen. Und diese Feindseligkeit und Macht, vor der ich mich so gefürchtet habe, ist nicht mehr zu spüren. Im Gegenteil. Das was ich spüre, sind meine liebsten Menschen auf der Welt. Menschen, die direkt hinter mir sitzen und mir Kraft schenken. Menschen, die mir geholfen haben, mir helfen und auch immer helfen werden. Und dieses Gefühl der Vertrautheit ist es, das mich ablenkt. Das mich alles in Schallgeschwindigkeit vor unserem Tisch vorbei ziehen sehen lässt. Und hinter mir spüre ich die normale Zeit, vermischt mit Ruhe, Frieden und Vertrauen. „Das ist ein guter Saal.", sage ich leise zu Mikiko. Sie schenkt mir als Antwort ein Lächeln, ohne mich anzuschauen. „Es verschwimmt einfach alles.", lache ich kurz auf. „Macht nichts, ich bin ja da.", antwortet Mikiko leise.

Ich war so darauf bedacht, alles genau wissen zu müssen, alles verfolgen zu können. Die Dialoge wollte ich genau mitbekommen, wollte mir nach der Verhandlung Notizen machen, um das gehörte und gesagte zu verarbeiten... jetzt aber wird mir bewusst, dass ich nur die Kontrolle über alles haben wollte. Die Kontrolle über mich. Die Kontrolle wiederzuerlangen, die ich an jenem Tag völlig verloren hatte. Aber nun wird mir klar, dass all dies überhaupt nicht wichtig ist. Dass ich Kontrolle abgeben kann... an die Menschen, die mich lieben. An die Menschen, dich ich liebe. Ich muss grinsen, ich habe absolut keine Ahnung, was da vorne vor sich geht, aber ich kann nichts anderes tun, als meinen Frieden zu genießen.

Und auch kann ich erneut nicht anders, als mich in einer Trinkpause des Richters umzudrehen und diesmal aber Haruko anzuschauen und auch anzulächeln. Ja, ich schenke es dir. Mein Haru Lächeln. Danke, dass du gekommen bist. Auch du sitzt hinter mir. Und auch du strahlst es gerade aus. Du bist da. Und ich sitze hier vorne und lasse die Zeit an mir vorbei rasen. Ohne ihre Reaktion abzuwarten, schaue ich wieder nach vorne.


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Hochgeladen am 17.09.16
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