17 | Prudentia potentia est

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Am nächsten Tag um halb zwölf kam ich in unser Zimmer geplatzt. Wenig überraschend waren Tina und Leonie nirgends zu sehen. Nur Thea saß noch auf ihrem Bett, die Nase wieder im Gedichtband. Als ich die Tür hinter mir zuknallte, sah sie fragend zu mir.

„Die Frau ist gruselig." Ich schmiss meine Schuhe in die Ecke. „Die hat einen Karton rumgetragen, der hat locker zehn Kilo gewogen. Und dann hat sie sich gleichzeitig über ihre kaputte Hüfte beschwert. Irgendwas stimmt da doch nicht."

Theas Blick wanderte wieder ins Buch, doch ihre Aufmerksamkeit war immer noch bei mir. Ihre Mundwinkel hatten sich belustigt nach oben gezogen. Wie sie da saß, entlockte mir einen resignierten Seufzer.

„Irgendwann lässt sich die ganze Sache mit Fräulein Schneider bestimmt gut ausnutzen. Aber heute habe ich echt nur Zeit verschwendet. Und Energie. Vor allem, wenn gleich zwei andere Leute dabei sind, die irgendein Redebedürfnis haben. Wusstest du, dass Max aus irgendwelchen Gründen auch da war?"

„Er hat es mir erzählt", sagte Thea.

„Und warum hast du mich nicht vorgewarnt?"

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hatte nicht den Eindruck, ihr würdet euch schlecht verstehen."

Mit einem Stöhnen schmiss ich mich aufs Bett. Das ganze Herumgeschleppe und Säubern diverser Kellerräume forderte eindeutig seinen Tribut. Ich griff nach meinem Buch und schlug es auf. Seite 104 schon. Es überraschte mich selber, dass ich bereits so weit gekommen war.

Nachdem ich zwei Sätze über das Duell zwischen Esmeralda Cruz und Fynn Denver überflogen hatte, sagte Thea: „Du hast gestern bis eins gelesen."

„Es ist interessanter als gedacht", antwortete ich, in der Hoffnung, sie würde keine weiteren Fragen stellen. Was sie glücklicherweise auch nicht tat. Ich holte meine Kopfhörern und vertiefte mich wieder in den Beschreibungen.

Ehe ich mich versehen hatte, war schon eine Stunde vergangen. Aus dieser Stunde wurden zwei. Dann drei. Manchmal spürte ich Theas durchdringenden Blick, als ob sie dachte, es könnte hier nicht mit rechten Dingen zugehen. Doch irgendwann hatte sie sich auch daran gewöhnt.

Der Frieden im Zimmer wurde schließlich von Tina unterbrochen. „Hey, ihr Schlaftabletten. Ich will nicht stören, muss nur einmal meinen Block holen."

Dann legte sich ihre Stirn in Furchen. „Ihr wollt mir nicht erzählen, ihr habt den ganzen Tag nur über Büchern gehockt, oder?"

„Doch", sagte ich kurzangebunden. Warum musste sie auch gerade in einem der spannenden Teile stören?

Sie ging schnell durch den Raum und griff nach ein paar Sachen auf ihrem Schreibtisch. Dann war sie schon wieder fast draußen.

„Denkt daran, ein bisschen Sonnenlicht würde euch auch guttun. Bis später." Die Tür schlug zu und es kehrte wieder Ruhe ein.

Eine Weile konnte ich weiterlesen. Und während meine aktuelle Position wieder anfing, ungemütlich zu werden, fiel endlich der Begriff, nach dem wir so lange gesucht hatten.

„Thea, ich hab's", rief ich.

„Wirklich?", hakte sie nach.

Meine Augen flogen erneut über den Absatz aus dem Glossar, das ich aufgeschlagen hatte. „Schwarze Königin", las ich vor. „Eine Duellstrategie, bei der der Kämpfer im Nachteil sich absichtlich zurückfallen lässt, um den Gegner in die Irre zu führen. Glaubst du, das ist das, worüber Frau Schwab geredet hat?"

„Könnte sein, ist aber unwahrscheinlich."

„Sie muss Ahnung von Duellen haben", hielt ich dagegen.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt