49 | Esse quam videri

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Nun war ich vollends verwirrt. Hatte ich irgendetwas verpasst? Was brachte sie derart außer Fassung?

In diesem Zustand hatte ich Tina noch nie erlebt. Besorgt, das ja. Aber so aufgewühlt?

Genau rechtzeitig schob sich Leonie an ihr vorbei ins Zimmer, ihre kurzen Locken fielen ihr ins Gesicht. Zuerst fiel ihr Blick auf mich, wie ich vor Tinas Schublade hockte. Dann wanderte er zu Thea, die in der Tür zum Bad stand, und weiter zur erstarrten Tina.

„Habe ich irgendwas verpasst?", sprach sie meinen Gedanken aus.

Das riss Tina aus ihrem Schockzustand. Sie machte ein paar schnelle Schritte auf mich zu, schloss die Schublade, blieb wieder stehen. Ihr Atem ging noch immer zu schnell.

Ich sah zurück auf meine Kette, dann zurück zu Tina. Dass es irgendetwas damit auf sich hatte, war klar. Nur was genau passierte hier gerade? Ich setzte zu einer Frage an, aber Tina kam mir zuvor.

„Ich wollte das nicht", brach es hastig aus ihr heraus. „Du musst mir glauben. Wirklich, es kommt immer so plötzlich, und dann-"

„Was soll ich dir glauben?", unterbrach ich sie. Meine Gedanken waren mittlerweile ein einziges Fragezeichen.

„Die Kette. Ich wollte sie nicht nehmen, aber es passiert einfach. Und eigentlich solltest du sie gar nicht finden, Emilie hat nur auf mich gewartet und ich musste schnell weg..."

„Du hast die Kette genommen und in die Schublade getan, weil Emilie..." Ich stoppte für einen Moment. Das machte doch alles keinen Sinn. „Warum überhaupt?"

„Das... Scheiße!" Sie sank aufs Bett. Aus ihrer Miene sprach pure Verzweiflung.

Da ich immer noch vor ihrem Nachttisch hockte, stand ich auf und schloss die Tür. Dann setzte ich mich neben sie. „Hey, alles ist gut. Niemand wurde getötet, oder so ähnlich. Nur, was ist überhaupt passiert?"

Sie schluchzte auf und nun begannen die Tränen zu fließen. „Meine Eltern hatten recht, ich verursache nichts als Probleme. Ich hätte nie herkommen sollen."

Ich legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. Gleichzeitig ruhten Theas und Leonies Blicke auf ihr und zerstörten den Effekt wieder. „Du verursachst keine Probleme, wie kommst du darauf?"

„Siehst du doch!"

Ich folgte ihrem Blick auf die Kette in meiner anderen Hand. Nein, ich hatte keine Ahnung, was zur Hölle eigentlich hier los war.

„Ich habe manchmal einfach den Drang, Dinge zu nehmen", erklärte Tina. Ihre Stimme brach. „Dinge, die nicht mir gehören. Ich kann nichts dagegen machen. Es fühlt sich so schlecht an, vor allem kurz danach. Ich weiß, ich sollte es nicht tun." Sie schniefte. „Aber wenn dieser Stress aufkommt, ist es das einzige, das hilft. Und ich dachte, es wäre hier besser geworden, aber..."

Irgendwie fühlte ich mich, als hätte ich etwas verpasst. Sie nahm einfach fremde Dinge, aber irgendwie war es nicht ihre Schuld? Und gleichzeitig wusste sie, dass es falsch war, aber es beruhigte sie irgendwie?

„Kleptomanie", kam es von Thea. Ihre Stimme war ruhig und klar. „Der Zwang, zu stehlen, egal ob es wertvoll ist oder nicht."

„So nennt man es." Tinas Augen füllten sich erneut mit Tränen. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich nun tun sollte.

Dafür hatte Leonie eine neue Idee. „Warte, wie lang geht das jetzt schon?", fragte sie.

Als einzige Antwort kam ein Schluchzen. Was sie offenkundig als Ja interpretierte. „Also auch meine Lernkärtchen? Und meine Notizen für das Catering?" Leonies Stimme war gefährlich ruhig geworden.

Tina nickte. „Es tut mir so leid. Ich wollte das nicht, glaub mir..."

„Du wusstest also davon?" Fassungslos starrte Leonie sie an. „Du hast sie geklaut und bist nicht einmal auf die Idee gekommen, sie mir zurückzugeben, als ich danach gesucht habe?"

Tina hob den Blick. „Ich wollte! Aber es hat sich keine gute Gelegenheit gegeben, und dann habe ich sie lieber später irgendwo unauffällig deponiert. Wenn ich gewusst hätte, wie wichtig die Sachen sind..."

„Verarschen kann ich mich selber", fauchte Leonie. „Du wusstest genau, wie wichtig das alles für mich ist."

„Ja, schon, aber was hätte ich tun sollen?"

„Die Wahrheit sagen und mir meine Notizen zurückgeben?"

Tina schüttelte den Kopf, die Verzweiflung in ihrem Gesicht vertiefte sich.

Nun war es um Leonie geschehen. „Was ist bitte falsch daran, für seine Fehler einzustehen?", schrie sie. „Ich habe einen verfluchten Zusammenbruch bekommen, ich musste sogar fast ins Krankenhaus!"

Tina schluchzte auf. „Es tut mir leid, wirklich. Es war nicht mit Absicht, zumindest nicht wirklich..."

„Aber trotzdem ist es geschehen! Und es bin ja nicht mal nur ich gewesen, die es getroffen hat. Weißt du eigentlich, was für ein Chaos du angerichtet hast? Der Schülerrat hat sich auf mich verlassen. Die gesamte dritte Stufe hat sich auf mich verlassen. Das lässt sich nicht einfach so mit einem Tut mir leid abtun!"

Als Tina nicht antwortete, sondern nur noch stärker weinte, fuhr sie einfach fort. „Nur wegen diesem Mist, den du hier abziehst, habe ich zwei Tage verloren, die ich dringend gebraucht hätte! Klausurphase steht an, die Maispiele, die Abschlussfeiern... Was glaubst du, wie viel Zeit ich habe, um Dinge zu suchen, die du einfach weggenommen hast?

Und dann trifft es auch noch Anna, und vermutlich auch noch Thea. Wie sollen wir bitte in einem Zimmer zusammenleben, wenn man ständig um seine Sachen fürchten muss? Ich will gar nicht wissen, wie viel schon einfach so abhandengekommen ist, ohne dass du was dafür kannst!"

Tina sah nun aus, als stünde sie kurz von einem hysterischen Anfall. Und so langsam schlug mir dieser Streit ebenfalls auf die Nerven.

„Leonie, sie kann wirklich nichts dafür", versuchte ich, die Situation zu beruhigen. „Wie Thea es schon erklärt hat, ist Kleptomanie ein Zwang."

„Sie hätte aber immerhin Bescheid sagen können. Oder sich einen Therapeuten suchen. Das wäre auch eine Idee gewesen", feuerte sie zurück.

„Reg dich ein bisschen ab, es waren keine unbezahlbaren Juwelen."

„Juwelen hätte mich immerhin nicht ins Krankenzimmer befördert."

Das reichte. „Das, was dich dorthin gebracht hat, war deine eigene Selbstüberschätzung", stellte ich klar. „Tina hat den Zusammenbruch nur nach vorne verlegt."

„Und wie erklärst du dir dann, dass es vor ihren Spielchen reibungslos funktioniert hat?"

„Den ganzen Tag keine Freizeit zu haben und bis in die Nacht hinein Hausaufgaben zu machen nennst du reibungslos?"

„Es hat funktioniert, bis sie meine Sachen hat verschwinden lassen!", rief sie, mittlerweile rot vor Wut. Ich wusste nicht mehr ganz, gegen wen sie sich nun richtete, doch nun war ich auch in Fahrt gekommen.

„Es hat gar nicht funktioniert!", rief ich. „Normalerweise merkt man, dass das System Mist ist, wenn man bei der leichtesten Abweichung direkt ohnmächtig wird."

„Und du merkst nicht, dass dieses System für mich die einzige Chance war, irgendetwas zu erreichen! Hast du nicht beim ersten Mal schon verstanden, wie kompliziert es ist? Ich lasse mir mein Leben doch nicht einfach von jemandem versauen, der einfach nur zu feige ist, sich der Wahrheit zu stellen oder Hilfe zu suchen!"

„Und daran sieht man schon, wie ungesund dieser konstante Stress gewesen ist. Nimm das ganze doch einfach als Anlass, das Leben ein wenig entspannter anzugehen, anstatt dich wieder in irgendwelche utopischen Pläne hineinzusteigern! Sonst landest du schon mit siebzehn in einer Burnout-Klinik."

Entgeistert starrte sie mich an. „Du... weißt du was, mir reicht's. Ihr versucht ja nicht mal, es zu verstehen!"

Sie sah noch einmal zu unseren Mitbewohnerinnen, dann stürmte sie aus dem Raum.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt