46 | Bene docet, qui bene distinguit

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Mit etwas Mühe legte ich eine einzelne Baumwurzel frei. Mein Gehirn war bereits komplett überfordert. Dinge aus der Erde zu holen, war immer noch nicht mein Lieblingsthema. Mittlerweile bekam ich es zwar hin, es war aber unglaublich anstrengend. Ich beneidete Kathi wirklich, dass sie das schon im Schlaf konnte.

Einen winzigen Moment entglitt mir der Magiestrom. Kathi. Ich hatte noch Dinge zu erledigen, und ich würde dieses Treffen nicht verstreichen lassen, ohne es wenigstens versucht zu haben. Ich ließ die Erde um die Wurzel herum stocken.

„Die Wasserbändigerin, von der Kathi erzählt hat", fing ich ohne Umschweife an, „Wir vermuten, dass es dieselbe ist, die Sie dazu gebracht hat, André zu töten."

„Das kann sein", sagte Frau Schwab, den Blick auf meine Wurzel geheftet. „Jetzt bring sie ein Stückchen zur Seite."

Ich versuchte, ihrer Aufforderung nachzukommen. „Vielleicht wäre es sinnvoll, zu wissen, zu was genau sie damals fähig war. Und wie sie es geschafft hat, dass sie keinerlei Spuren mit ihren Manipulationen hinterlassen hat. Mist!"

Die Wurzel entglitt mir und der Versuch, sie noch ein Stückchen weiter zu bewegen scheiterte. Stattdessen riss sie ein paar Millimeter weit ein. Als ich das spürte, zuckte ich zusammen.

„Du bist unkonzentriert", kam es als einziger Kommentar zurück. „Reparier das wieder, dann von vorne."

Ich kniff die Lippen zusammen und flickte die Wurzel. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Bewegung. Wurzeln zu bewegen war leider noch sehr viel schwerer als Steine oder andere unbelebte Gegenstände. Man konnte mit einem einzigen Fehler so einige Zerstörung anrichten. Und genau das passierte schon nach ein paar Sekunden wieder. Frustriert ließ ich von dem Baum ab.

„Gibt es keinen Trick, wie man das besser hinbekommt?", fragte ich. „Oder wie man zumindest die Erde vom Wegrutschen hindern kann?"

„Sicher gibt es das. Das Problem mit der Erde kann man durch einen einfachen Bann erledigen."

Was ein Bann war, wusste ich. Ich wusste aber auch, dass man die Technik nicht einmal in der Schule lernte. Trotzdem hakte ich nach: „Können wir das nicht vielleicht noch vorziehen?"

„Dafür bist du noch nicht weit genug, das würde nur noch mehr Zeit kosten." Die wir nicht haben, hing unausgesprochen in der Luft. Mittlerweile wünschte ich mir wirklich Kathi zurück. Mit ihr zusammen war das Magietraining deutlich entspannter gewesen. Auch wenn es vermutlich nur daran lag, dass Frau Schwabs letzten Tage dank der Morde nicht die besten gewesen waren. Davor war sie ebenfalls weniger angespannt gewesen.

„Und warum machen wir das mit der Wurzel überhaupt? Sowas habe ich noch nie irgendwo gelesen oder davon gehört."

„Ja, und zwar, weil es illegal ist", sagte sie nüchtern.

„Illegal?" Eine Wurzel zu bewegen? Da hatte vermutlich wer vom Rat ein bisschen zu viel Langeweile gehabt.

„Es ist nicht die Wurzel, sondern der Prozess, der dahintersteckt. Normalerweise hört es nämlich nach der Wurzel nicht auf, sondern geht auf Tiere und Menschen über. Darf ich einmal?"

Etwas überfordert nickte ich. Einen Augenblick später hob sich mein Arm, ohne dass ich etwas tat. Dann ging ich einen Schritt. Und wieder einen zurück. Alles, ohne jegliche Kontrolle darüber zu haben. Ich versuchte, meinen Arm zurück nach unten zu bewegen, doch er verharrte in der Luft. Kurz wallte Panik in mir auf, die ich jedoch direkt wieder unter Kontrolle zu bringen versuchte. Niemand wollte mir schaden. Ich hatte sogar eingewilligt.

Frau Schwab nickte mir zu und beim nächsten Versuch hatte ich endlich wieder die Kontrolle über meinen Körper zurück. Ein Schauder lief mir über den Rücken, ohne dass ich es verhindern konnte. Das war unheimlich gewesen. Wenn ich mir vorstellte, was jemand mit einer solchen Macht hätte tun können...

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt