Epilog

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LEONIE

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Ich sah aus dem Fenster. Verschiedenste Landschaften zogen an mir vorbei, wie ein nie endender Zeitraffer. Bäume, Seen, Städte, Felder, Berge. Mittlerweile kümmerte es mich nicht einmal mehr, was da draußen passierte. Ich benötigte lediglich ein sich bewegendes Bild. Einen Gegensatz zu meinem Leben, das von nun an stehengeblieben war.

Natürlich wusste ich, dass es so nicht ganz richtig war. Ich würde trotzdem weiter altern, bis zu einem bestimmten Punkt. Und Unsterblichkeit hieß nicht, dass ich nicht mein Leben leben konnte. Meine Träume nicht mehr erfüllen konnte. Mit dem ewigen Leben war immerhin auch einer meiner Träume in Erfüllung gegangen.

Doch ich fühlte nichts, nichts als Leere. Es war mein Traum gewesen, mein Ziel. Einmal in meinem Leben etwas zu erreichen. Einmal in meinem Leben besser zu sein. Warum fühlte es sich dann nicht danach an?

Ich lehnte die Stirn an die kühle Scheibe des Autos. Die Erkenntnis, dass ich nicht einmal wusste, in was für einem Auto ich saß, fraß sich in meine Gedanken. Sie gesellte sich zu den vielen anderen Dingen, die ich nicht wusste. Unter anderem, wohin wir unterwegs waren. Seitdem wir die Akademie zurückgelassen hatten, hatte ich kein Wort mehr mit Fräulein Schneider geredet.

„Wir machen gleich eine kurze Rast, ich muss dringend tanken", kündigte diese nun mit ungewohnt klarer, fast junger Stimme an. Ich zuckte zusammen.

„Brauchst du irgendetwas zu essen oder trinken?"

Ich schüttelte den Kopf. Also fuhr das Auto die nächste Ausfahrt raus, die Hausmeisterin stieg aus, tankte, kam zurück. Als wir wieder auf der Straße waren, ergriff sie erneut das Wort.

„Da wir in nächster Zeit sehr viel miteinander zu tun haben werden, lass uns ein paar Dinge klären. Du weißt ja vermutlich nicht einmal, mit wem du es hier zu tun hast."

Ich blickte weiterhin aus dem Fenster, der Himmel verdunkelte sich mittlerweile. Nur durch die Spieglung im Glas bemerkte ich, wie sich etwas an Fräulein Schneider veränderte. Ihr Haar wurde dunkler, ihre Haut glatter. Es war, als würde sie umgekehrt altern.

Nein, nicht altern. Sich in einen ganz neuen Menschen verwandeln.

Erst als sich nichts mehr veränderte, sah ich zur Seite. Erinnerungen fluteten meinen Kopf. Ich kannte das neue Erscheinungsbild der Hausmeisterin. Sie war das Ebenbild eines Portraits, an dem ich schon so oft vorbeigegangen war. Eine Frau mit bronzefarbenen Zügen, einer flachen, schmalen Nase, pechschwarzen Augen. Neben mir, seelenruhig über die Autobahn navigierend, saß Perenelle Flamel am Lenkrad.

„Wie..."

Die Worte wollten nicht einmal meinen Mund verlassen. Es war so absurd. Die gutmütige, langjährige Hausmeisterin der Akademie war eine sechshundert Jahre alte Alchemistin?

„Was ein paar Illusionen ausmachen können, nicht wahr?" Perenelle lächelte befriedigt. „Und damit willkommen im Kreis der Unsterblichen. Ich kann es kaum erwarten, dich den anderen vorzustellen."

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt