7 | Ne quid nimis

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Nur wenige Minuten nachdem ich mich mit meinem Abendessen an den kleinen Tisch in der Ecke gesetzt hatte, bekam ich erneut Gesellschaft. Max, oder besser gesagt Theas Klette, knallte sein Tablett gegenüber auf den Tisch. Mit voller Wucht spießte er seine Gabel in sein Steak.

„War dein Tag auch so schlecht wie meiner?", erkundigte ich mich. Die Frage, ob seine Verabredung mit Thea wohl nicht nach seinen Erwartungen verlaufen war, ließ ich lieber aus. Ich war schließlich nicht seine eifersüchtige Freundin. Obwohl ich auch sonst jeden Grund gehabt hätte, eine spitze Bemerkung abzugeben.

„Noch schlimmer", sagte er missmutig. „Aber lass uns nicht darüber reden, ich will mein Essen genießen."

Ich zuckte mit den Schultern. „Wie du willst."

Dann widmete ich mich wieder meinem Essen. Für eine Schulmensa war es deutlich über dem Durchschnitt. Im Allgemeinen war es sogar mehr als essbar. Wenn man von den ziemlich gummiartigen winzigen Brötchen vom Frühstück absah. Aber zum Glück stellten die die Ausnahme dar. Meine Spinatlasagne, das heutige vegetarische Menü, war jedenfalls sehr lecker.

Nach einer gewissen Zeit flammte meine Neugier jedoch erneut auf. Auf meiner Erkundungstour heute Nachmittag mit Leonie und Tina war ich Max nur einmal kurz über den Weg gelaufen. Da hatte er jedoch nicht besonders schlecht gelaunt ausgesehen. Eher, als ob er kurz vor dem Einschlafen war. Was mich direkt an meine nächtliche Aktion erinnerte.

Ich warf einen vorsichtigen Blick in seine Richtung. Mittlerweile hatte er von seinem Fleisch abgelassen.

„Ich weiß, es geht mich nichts an, aber bezüglich schlechter Tage...", begann ich vorsichtig. Er sah mich mit einer Mischung aus Genervtheit und Resignation an. Immerhin hatte er seine Laune so weit unter Kontrolle, dass sein Fleisch nicht darunter leiden musste.

„Das stimmt, und ich möchte wirklich nicht darüber reden."

Ich lehnte mich mit einem möglichst neutralen Ausdruck zurück. „Auch in Ordnung. Ich kann nur irgendwie schwer glauben, dass dein Tag noch schlimmer war als meiner. Ich habe es immerhin mit Lukas' Hilfe geschafft, gefühlt den halben Garten abzufackeln."

„Ich weiß", antwortete er kurz angebunden.

„Woher das?"

„Es war kaum zu übersehen."

„Das heißt, du warst im Garten." Ich hatte Lukas am Nachmittag zu seinem Zimmer begleitet, und die Fenster befanden sich auf der Seite des Schultors. So langsam kam ich einer Antwort näher.

Er stand abrupt auf und stapelte sein halbvolles Geschirr zurück aufs Tablett. „Ich glaube, es ist besser, ich gehe jetzt. Guten Appetit noch."

Wortlos blickte ich ihm nach, als er mit schnellen Schritten das Tablett wegbrachte und den Speisesaal verließ. Er sah kein einziges Mal zurück.

Unschlüssig widmete ich mich wieder meinem Essen. Ich wusste nicht, was für eine Reaktion ich erwartet hatte, aber nicht so eine. Er schien wirklich, wirklich mies gelaunt zu sein.

Den Rest der Zeit im Saal verbrachte ich alleine.

***

„Hat wer meinen Taschenrechner gesehen?" Leonies Stimme hatte einen leicht panischen Unterton. „Oder meinen Füller?"

„Nee. Aber ich würde mal in deinem Haufen da anfangen zu suchen." Tina begutachtete das Chaos, das auf Leonies Bett herrschte.

„Da habe ich schon nachgeschaut. Andere Ideen?"

„Nochmal nachschauen?"

Es war erstaunlich, wie viel noch so kurz vor Nachtruhe in unserem Zimmer los war. Und diesmal konnte ich mich auch nicht dem Einfluss der anderen entziehen. Wir waren wohl alle nervös, was den ersten Schultag anging.

„Sag mal, was wird das eigentlich da drüben, Anna?", kam es von Tinas Bett.

„Dinge zusammensuchen." Zum dritten Mal kontrollierte ich, ob ich alles für morgen zusammen hatte. Bücher, diverse Schreibmaterialien, Stundenplan, Kopfhörer. Letztere packte ich nach genauerem Überlegen wieder aus. Ich würde sie diesen Abend noch gebrauchen können.

„Seit zehn Minuten?"

„Leute, ich hab den Füller!", ersparte mir Leonie eine Antwort.

„Und, wo war er?", fragte Tina.

Leonie schnaubte nur und durchwühlte ihr Chaos weiter. Ich brachte meine Tasche zurück zu meinem Schreibtisch und ließ mich rückwärts aufs Bett fallen. Ich merkte selber, dass ich zu angespannt war. Einerseits aus Nervosität, andererseits, weil ich meine Laufrunde heute wegen meines Knöchels hatte ausfallen lassen müssen. Und wie es aussah, würde Leonie auch mindestens bis elf Uhr noch wach sein. Hinausschleichen konnte ich also vergessen.

Ich machte mir Musik an und starrte an die Decke. Die ersten Leute waren gegen zehn Uhr zwanzig in den Orchestergraben gekommen. Das bedeutete, ab dann bestand keine große Gefahr mehr, von einer Kontrolle erwischt zu werden. Es gab allerdings ein Problem: Wenn ich mich früher im Instrumentenraum positionieren wollte, musste ich folglich auch früher kommen. Das würde ich nur auf eine ähnliche Art wie letzte Nacht schaffen.

Die anderen Möglichkeiten sahen nicht viel besser aus. Entweder, ich konnte mich irgendwann zwischendurch in den kleinen Raum schmuggeln. Das war mir aber zu abhängig von bloßem Glück. Ich hatte gestern ja schon die Erfahrung gemacht, dass die Menschen ein und aus gegangen waren. Oder ich könnte den potentiellen zweiten Eingang suchen und in der Nähe nach einem guten Versteck Ausschau halten. Ob ich letzteres aber finden würde, stand in den Sternen. Außerdem gab es bei beiden Alternativen eine große Chance, irgendwelchen Teilnehmern im Schloss über den Weg zu laufen. Ebenfalls ein unerwünschtes Risiko.

Ich begann, mit den Fingern auf der Matratze zu trommeln. Es war zum Verzweifeln. Es schien, als müsste ich für jeden Plan gewisse Risiken eingehen. War da irgendwas, was ich übersah? Oder gab es einfach keinen leicht umsetzbareren Plan?

„Tina!", schrie Leonie auf. Sofort saß ich senkrecht auf dem Bett. Thea auf ihrem Bett wandte ebenfalls ihren Kopf in Richtung der anderen Raumhälfte.

„Wir haben doch gerade erst deinen Taschenrechner gefunden, was ist jetzt schon wieder los?"

„Meine Mini-Taschenlampe. Eben habe ich sie noch gesehen, und jetzt ist sie weg."

Thea richtete ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihr Notizbuch. Ich sank zurück aufs Bett. Es war also doch nichts Dramatisches passiert.

„Wozu brauchst du bitte eine Mini-Taschenlampe?" Tinas irritierte Frage war das letzte, was ich hörte, bevor ich die Außengeräusche wieder ausblendete.

Die darauffolgende halbe Stunde erwies sich als äußerst unproduktiv. Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf, die Taschenlampe blieb verschollen und irgendwann blockierte Thea das Bad. Es verging noch eine weitere Stunde, bis wir das Licht schließlich ausmachten.

Während ich im Dunkeln wartete, machte ich mir eine To-Do-Liste von allen wichtigen Dingen, die ich die nächsten Tage erledigen wollte. Dabei fiel mir ein, dass ich heute Abend die Möglichkeit versäumt hatte, wegen Theas Einschlafschwierigkeiten nachzuhaken. Dafür war Max zu schnell verschwunden. Wenn ich wirklich etwas erreichen wollte, musste ich mich zukünftig geschickter anstellen.

Wenigstens zwei Punkte meiner ehemaligen Ziele konnte ich aber bereits abhaken. Einerseits Lukas' Experimente, andererseits das Lesen der Schulordnung. Vorsichtshalber hatte ich sie sogar zweimal gelesen. Frau Schwab hatte recht, es sollte wirklich bei diesem einen Vorfall bleiben. Zu viel Aufmerksamkeit würde meinen kleinen Nebenprojekten schaden.

Als ich mich bereits zwingen musste, die Augen offen zu halten, war es Zeit, einen weiteren Punkt abzuhaken. So leise wie möglich drehte ich mich so, dass ich direkt auf Theas Bett blickte. Ein weit geöffnetes Augenpaar starrte mir entgegen. Reflexartig schloss ich die Augen wieder. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, dass ich sie gesehen hatte. Doch egal wie, nun hatte ich Bestätigung. Sie war aufmerksam. Das würde meine nächsten Schritte erschweren.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt