27 | Audere et sentire

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„Wo ist Thea?", fragte ich, als ich aus dem Bad kam. Erstaunlicherweise steckte mir die Kälte trotz heißer Dusche immer noch tief in den Knochen.

„Keine Ahnung", sagte Tina, ohne ihren Blick von ihrem Handy abzuwenden. „Sie war vor einer Stunde kurz hier. Allerdings auch nur für ein paar Minuten."

„Und Leonie?" Als ich vor einer Viertelstunde zurückgekommen war, war sie noch dagewesen.

„Bei irgendeiner superwichtigen Schülerratsangelegenheit."

Sah so aus, als hätten alle irgendetwas zu tun. Selbst Tina wirkte beschäftigt. Einen Moment dachte ich darüber nach, nochmal nach draußen zu gehen, um mit dem Magiespürsinn weiter herumzuexperimentieren. Doch ein Blick aus dem Fenster reichte, um den Gedanken direkt wieder zu verwerfen. Das Schneegestöber wurde immer heftiger und es war mittlerweile stockduster. Wenn das so weiterging, würden wir morgen früh nicht einmal mehr aus dem Schloss kommen. So etwas hatte ich lange nicht mehr erlebt.

Von den Umständen dazu gezwungen pflanzte ich mich aufs Bett und hörte Musik. Diesmal keine beruhigenden Instrumentalstücke, sondern eine ziemlich gemischte Playlist. Ich hatte sie mir in den ersten paar Wochen in Deutschland zusammengestellt, und da hatte ich auch verzweifelt nach einer sinnvollen Beschäftigung gesucht.

Während ich dalag, wanderten meine Gedanken wie automatisch zu Thea. Eigentlich sollte es mich nicht kümmern, dass sie zu Frau Schwab gegangen war, solange sie mich aus der Sache rausließ. Dann hatte sie ihr Gewissen beruhigt und ich hatte keine Probleme am Hals. Trotzdem fühlte ich mich immer unwohler bei der Sache. Thea war kein Naturtalent im Improvisieren. Das Einzige, was sie sich einhandeln würde, waren Schwierigkeiten. Es war ja nicht einmal gegeben, dass Frau Schwab ihr die Geschichte überhaupt abnahm.

Außerdem klammerte ich mich immer noch an der Hoffnung fest, dass ihre Eltern sie hierlassen würden. Mittlerweile konnte ich mir die Akademie kaum mehr ohne meine Freundin vorstellen. Doch leider wurde das immer unwahrscheinlicher. Dass Thea schon mehrere Stunden weg war, war kein gutes Zeichen. Ich wurde die Ahnung einfach nicht los, dass es an mehr als unserer kleinen Meinungsverschiedenheit lag.

Sollte ich eventuell einmal Max anschreiben? Wenn jemand wusste, wo sie steckte, dann er. Ich griff nach meinem Handy, ließ es wieder sinken. Jetzt war es zu früh. Es wäre wahrscheinlich erst angebracht, wenn sie selbst nach Nachtruhe nicht mehr auftauchte.

Also tat ich alles, damit die Zeit schneller vorbeiging. Ich machte Spaziergänge durch das Schloss und stattete selbst den abgelegensten Ecken einen Besuch ab. Auch an der Bibliothek ging ich mehrmals vorbei. Die Tür war provisorisch verstellt worden, so, dass man immer noch die Reihen an Bücherregalen sehen konnte. Kurz bevor ich beim Abendessen gewesen war, hatte ich einmal den kleinen Mann vom Rat hinter der Absperrung verschwinden sehen.

Mehr war jedoch nicht passiert. Die Gespräche, die ich zufällig mitbekam, beinhalteten nichts, was ich nicht schon kannte. Jedenfalls, bis ich kurz nach Nachtruhe ein letztes Mal an der Bibliothek vorbeiging.

Stimmen ertönten, gleich zwei. Nach ein paar Sekunden erkannte ich die des stellvertretenden Schulleiters und die von Fräulein Schneider. Sie sprachen nicht gerade leise. Das gab mir die Möglichkeit, mich hinter eine Säule zu pressen und zu hoffen, sie würden mich nicht bemerken. Schüler, die nach Nachtruhe um den Tatort herumschlichen, waren wahrscheinlich nicht gerne gesehen.

Während sie näherkamen, wurden sie immer lauter. Ich wartete in dem schummrigen, gelblichen Licht der Flurbeleuchtung, bis ich sie endlich verstehen konnte.

„Mittlerweile schnappen sie alle über", sagte Herr Emerson. „Lydia hat dich sicher schon über die Bestätigung ihrer Theorien aufgeklärt?"

„Die Sache mit der Geheimorganisation, die die Erstklässlerin beobachtet haben soll?", fragte Fräulein Schneider.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt