60 | Memento mori

45 7 4
                                    

Mir wurde heiß und kalt zugleich. Am liebsten wäre ich weggerannt. Doch die Metallstäbe schnitten meine Sicht in Teile und der Ring um meinen Fuß war plötzlich tonnenschwer.

Es war Felicia de Luca, Lorenzos Schwester, die nun im Gang stand und spöttisch lächelte. Diejenige, die ohne zu zögern meine Familie zum Tode verurteilt hätte. Diejenige, wegen der ich Lorenzos und meine Beziehung so schlagartig beendet hatte.

Ich presste mich an die Wand, machte mich so klein es ging. Als würde es mich irgendwie unauffälliger machen.

Was es natürlich nicht tat. Ihr Blick lag trotzdem direkt auf mir, die Flamme der Laterne ließ Schatten über ihr Gesicht tanzen. Sie sah unnatürlich aus, wie eine Kreatur aus einem wahrgewordenen Alptraum.

Ich spürte, wie mein Herzschlag immer schneller wurde, mein Atem hektischer. Warum war sie hier? Warum ausgerechnet sie? Und warum gerade jetzt? Es gab keinen Ausweg. Keinen einzigen.

„Ach, jetzt auf einmal?", durchschnitt ihre Stimme die Stille. Sie klang gefährlich scharf, und unter den spöttischen Ton mischte sich etwas anderes: Wut.

„Wie ironisch, dass wir uns jetzt in derselben Situation wiederfinden."

Als sie auf mich hinabstarrte, fing ich an, unkontrolliert zu zittern. Ich wusste, was sie vorhatte. Sie war derselbe, grausame Typ Mensch wie ihr Vater. Sie besaß dasselbe Wissen, das hatte er schon seit Langem sichergestellt. Sie hatte es sich sogar selber gewünscht, wenn man Lorenzo glauben konnte.

Ein Blitz fuhr durch meine Gedanken, hell und schmerzhaft. Lorenzo. So langsam fügte sich das Bild zusammen. Er hatte mich in den Turm gelockt, war nicht zur Hilfe gekommen, hatte dann seiner Schwester verraten, wo sie mich finden konnte. Vermutlich nicht nur ihr, auch allen anderen aus seiner Familie.

Das alles war eine perfide Rache-Aktion. Er war wütend, weil ich ihn einfach abserviert hatte, warum sie genau wütend war, wusste ich nicht. Ich konnte es aber ahnen. Nachdem sich mein Vater in den Augen der Mafia als unschuldig herausgestellt hatte, hatte es Streit bei den de Lucas gegeben. Wenn ich Felicias Vater richtig einschätzte, hatte sich sein Zorn vor allem gegen sie gerichtet.

Sollte ich damit aber recht haben, waren das schlechte Omen. Ich wollte nicht erfahren, zu was sie fähig war. Erneut zuckten die Erinnerungen durch meinen Kopf. Aufgedunsene Körper, zahlreiche Schnittwunden. Ich konnte nur hoffen, es würde schnell gehen. Was in ihren Verhältnissen nichts bedeuten musste.

Das Licht flackerte, verzerrte ihre Gesichtszüge. Einen Moment lang dachte ich, sie würde sich auf mich zu bewegen. Vor Panik wurde mir schwarz vor den Augen. Die Kette schützte mich zwar vor möglichen Magieangriffen, aber sie kannte mehr als das. Keine Sekunde zweifelte ich daran, dass sie von diesem Wissen Gebrauch machen würde.

Verschwommen sah ich, wie sie einen Schritt zur Seite machte, sich von mir abwandte. Nun sah sie direkt in die Richtung, aus der Nicholas' Stimme gekommen war.

„Es ist soweit", verkündete sie. „Du hattest doch sicher genug Zeit, deine Antwort zu überlegen, oder?"

„Ja", sagte er, seelenruhig und mit fester Stimme. „Ich bleibe dabei. Von mir aus könnt ihr mich für alle Ewigkeit hier unten versauern lassen."

Ich hatte keine Ahnung, von was sie redeten. Es schien wichtig. Wichtig genug, dass man dafür Menschen quälte. Am liebsten hätte ich nachgefragt, doch meine Zunge schien wie festgeklebt.

Felicia seufzte. „Wie schade." Sie schwenkte die Laterne zurück zu mir und ich zuckte zusammen. „Aber zum Glück haben wir eine Alternative. Nicht wahr, Giulia?"

Ich starrte zurück, meine Sinne wie benebelt. Ich hatte recht behalten. Sie war genau wie er. Weil Nicholas ihr nicht gab, was sie wollte, würde sie nun ihren Spaß haben. Doch ich brachte tatsächlich mehr als einen angsterfüllten Laut heraus.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt