16 | Gravissimum est imperium consuetudinis

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In der Bibliothek war es nicht besonders voll. Dank des guten Wetters waren die meisten noch draußen oder hatten im Allgemeinen besseres zu tun, als zwischen staubigen Büchern herumzuschleichen. Unter normalen Umständen hätte ich das vermutlich auch nicht gemacht. Doch einen Vorteil hatte es: Thea fand ich fast sofort.

„Und, hast du schon was gefunden?", fragte ich.

„Warte", sagte Thea und verschwand hinter einem der hohen Regale.

Ich ließ mich auf eine der gepolsterten Fensterbänke vor den großen Fenstern fallen. Obwohl ich lieber draußen gewesen wäre, musste ich zugeben, dass es sehr bequem hier war. Auch die Atmosphäre war überraschend angenehm. Niemand nervte und es lag eine altertümliche Aura über dem Raum.

Nachdem ich es mir gemütlich gemacht hatte und dabei war, eine Gruppe Schüler draußen zu beobachten, kam Thea zurück. Sie trug einen Stapel Bücher auf dem Arm, die sie vor mich stellte. Dann setzte sie sich gegenüber von mir hin und schlug ein Bein übers andere.

„Die willst du alle lesen?" Ich betrachtete den Stapel kritisch. Es waren nur vier Bücher, alle jedoch eher im Wälzer-Format. Das würde ein langer Nachmittag werden.

„Das sind auf jeden Fall die Vielversprechendsten." Sie breitete die Bücher zwischen uns aus. „Du kannst dir eins aussuchen."

Unwillkürlich verzog ich den Mund. Das würde sich tatsächlich in die Länge ziehen. Besonders, wenn eines der Bücher eine riesige Poesiesammlung und ein anderes sechshundert Jahre alt war.

„Ich nehme das hier." Ich deutete auf das Buch, das am modernsten aussah.

Thea griff nach der Poesiesammlung und begann direkt zu lesen. Ergeben schloss ich mich ihr an. Es trug den beeindruckend langweiligen Titel Populäre Duelle aus aller Welt. Immerhin zeigte ein Blick aufs Impressum, dass das Buch erst vor fünf Jahren erschienen war. Wie genau das uns weiterhelfen sollte, war mir noch nicht ganz klar.

Die ersten Seiten waren eine ewig lange Einführung. Ich versuchte, mich durchzuquälen. Doch gleichzeitig verlagerte sich meine Aufmerksamkeit immer weiter zum Fenster. Die Gruppe Schüler war immer noch da und unterhielt sich anscheinend. Obwohl ich ein paar von ihnen höchstens vom Sehen kannte, hätte ich allzu gerne gewusst, über was. Vielleicht sollte ich irgendwann mal Lippenlesen lernen. Wenn mir sehr langweilig war.

Ich legte meinen Kopf an die kühle Scheibe. Die Ruhe und der Gegensatz zu der Wärme draußen taten gut. Zum Glück hatte die Schule eine Klimaanlage. Laut dem Wetterbericht sollte es in der nächsten Woche noch richtig warm werden.

Nachdem ich noch eine Zeit lang nach draußen geschaut und über unwichtige Dinge wie Hausaufgaben nachgedacht hatte, warf ich einen Blick zu Thea. Sie war schon zu mindestens einem Zehntel in ihrem Buch drin. Ich sah auf die aufgeschlagene Seite meines eigenen Buchs. Die Nummer acht sprang mir entgegen. Ein schlechtes Zeichen, wenn man bedachte, dass es bestimmt vierhundert Seiten hatte.

Ohne besondere Euphorie setzte ich mich erneut dran. Diesmal schaffte ich drei Seiten am Stück, die im Nachhinein keinen Sinn mehr ergaben. Was interessierte es mich, wie genau die Tradition der Magieduelle entstanden war? Vielleicht sollte ich eher noch einen Versuch im Keller wagen. Dieses ganze Lesen war den Zeitaufwand nicht wert.

Ich legte das Buch beiseite. „Bin gleich wieder zurück", sagte ich. Thea sah einmal kurz auf und nickte abwesend. Dann verließ ich die Bibliothek.

Leider kam ich nicht mal bis zur Treppe ins Untergeschoss. Vor einem Portrait einer jungen Frau mit bronzenen, asiatisch angehauchten Gesichtszügen kam mir auf einmal die Schulleiterin entgegen. Sie verlangsamte ihre Schritte ein paar Meter vor mir.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt