Ich starrte auf Lorenzos Gestalt. Bilder schwappten an die Oberfläche. Bilder, die ich am liebsten vergessen würde. Mein Griff um die Sporttasche wurde fester.
„Ich glaube, mir ist schlecht", brachte ich gerade noch hervor.
Dann stürzte ich zurück ins Gebäude. Nur weg von hier. Weg von Lorenzo, weg von diesem viel zu offenen Platz.
Ich rannte die Treppe hoch, kämpfte mit meinem Schlüssel, riss die Tür auf. Keine Sekunde zu früh kam ich im Badezimmer an. Und während ich mir die Seele aus dem Leib kotzte, pochte ein einziger Gedanke in meinem Kopf. Immer wieder, unerbittlich.
Sie haben uns gefunden.
„Kann ich irgendwie helfen?", fragte Tina vom Türrahmen.
Am liebsten hätte ich laut aufgelacht. Wobei sollte sie helfen? Dabei, meine Familie noch schneller umzubringen? Dabei, vermutlich selber beim Versuch zu helfen draufzugehen? Dabei, irgendwie mein zerfallendes Leben zusammenzuhalten?
Energisch kam Tina auf mich zu. „Kommst du wieder mit rüber? Im Zimmer ist es wesentlich gemütlicher."
Sie einfach anzuschreien, dass sie gehen sollte, war verlockend. Doch selbst das brachte ich nicht zustande. Es war, als hätte mir Lorenzo jegliche Energie aus dem Körper gesaugt und nichts als Sorgen und Angst zurückgelassen.
Da ich mir halbwegs sicher war, dass ich mit dem Erbrechen vorerst durch war, folgte ich ihr bis zu meinem Bett. Zuerst setzte ich mich zu Tina auf die Bettkante. Aber nach einer Aufforderung, mich lieber auszuruhen, legte ich mich schließlich hin. Ich fühlte mich nur noch unwohl in meiner Haut, wollte am besten irgendwo in einem dunklen Loch verschwinden. Bei dem Gedanken spürte ich ein bitteres Lachen aufkommen. Der Wunsch würde mir jetzt vermutlich erfüllt werden.
„Wir sind übrigens beide von Sport entschuldigt", informierte mich Tina weiter. „Eigentlich sollte ich auch direkt zu Herrn Araya gehen, aber ich wollte noch einmal hier vorbeischauen."
Eine Weile war es still. Ich sah bloß an die Decke, mein Kopf immer noch zu nichts zu gebrauchen. Irgendwo am Rande meines Bewusstseins wusste ich, dass ich überreagierte. Es gab schließlich noch so viele andere Gründe, weshalb Lorenzo plötzlich aufgetaucht sein konnte. Doch dieser eine hatte sich in meinen Gedanken festgesetzt.
„Kennst du ihn?", fragte Tina nach einer Ewigkeit. „Den Italiener, meine ich."
Es war wohl nicht zu übersehen gewesen. Wie viel sollte ich ihr erzählen? Zu viel war keine gute Idee, zu wenig wirkte unglaubwürdig, und wenn ich es richtig anstellte, konnte ich sogar noch ein paar Vorteile für mein Überleben der nächsten Tage herausschlagen. Das Einzige, was ich jedoch auf jeden Fall auslassen sollte, war die Mafia.
„Wir waren zusammen", sagte ich.
„Als du in Italien gewohnt hast?"
„Ja. Unsere Familien kennen sich aus Geschäftsgründen, auch wenn sie sich bis aufs Blut nicht ausstehen können. Und irgendwie hat es sich dann entwickelt. Aber dann hat sich herausgestellt, dass er eine ziemlich unbedachte Seite hat, die den Konflikt nur noch weitergetrieben hat. Und vor einem Jahr haben wir uns getrennt. Auf eine ziemlich unschöne Art und Weise."
„Oh", entwich es Tina. „Und jetzt steht er auf einmal hier auf der Matte. Solche Zufälle sind wirklich das Letzte."
Das konnte sie laut sagen. Obwohl ich natürlich nicht glaubte, dass das Zufall gewesen war. Dafür war die Welt dann doch zu groß. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass Lorenzo erstmal ebenfalls Magie hatte, dann beschloss, ein Auslandsjahr zu machen, und dann auch noch auf genau dieser Schule landete? Mit dem Wissen über Stochastik, das uns unser Mathelehrer seit Wochen verzweifelt versuchte beizubringen, hätte man die jetzt vermutlich ausrechnen können.
Was man sicher auch berechnen könnte, war die Wahrscheinlichkeit, Lorenzo nun in ganz normalen Alltagsituationen über den Weg zu laufen. Und das war nichts, das ich gerade gebrauchen konnte. Vor allem, wenn ich noch keinen Plan hatte.
„Also, was jetzt?", fragte Tina.
„Keine Ahnung", gab ich zu.
Früher oder später würde ohnehin jemand von der Polizei darauf aufmerksam werden und mich wegholen. Alternativ auch Lorenzo irgendwie rausschmeißen. Aber so oder so war das Problem danach gelöst. Also musste nur eine Überbrückungsstrategie her.
„Ich könnte mich krankschreiben lassen", überlegte ich laut. Mit einer dicken Grippe würde das funktionieren, und praktischerweise hatte ich in Sachen Erkältungen schon Erfahrungen. Rückwärts würde das hoffentlich auch klappen.
„Abgesehen davon, dass du Besuch von Herrn Araya bekommen würdest, der eigentlich alles rein zufällig in Sekunden heilen kann, warum klärst du die Sache nicht einfach? Ich weiß, schwierige Vergangenheit, aber er wird jetzt eine längere Zeit hier sein."
„Im besten Fall nicht", rutschte es mir heraus.
Tina zog die Augenbrauen hoch. „Wie das? Willst du ihn eigenhändig rausschmeißen?"
„Rausschmeißen lassen", verbesserte ich. Sollte sie sich doch selbst eine Geschichte zusammenreimen.
„Ich würde ja anbieten, ihn rausfliegen zu lassen, aber er ist leider eine Stufe über mir. Allerhöchstens schmeißt er mich dann raus."
Widerwillig musste ich lächeln. Die Vorstellung, wie Tina Lorenzo einfach aus dem Fenster fliegen ließ, war genial.
„Da dieser Plan schonmal scheitern würde, wie wäre es, du ignorierst ihn einfach?", sagte Tina. „Niemand zwingt dich, irgendwas mit ihm zu machen. Ihr seid ja nicht mal zusammen in einem Kurs."
Ich verzog das Gesicht. „Dann doch lieber versuchen, mich krankschreiben zu lassen. Oder es beschließt noch jemand, etwas gegen ihn zu haben, und bring ihn einfach um. Aber dann bitte erst nach den Osterferien, damit Thea auch noch irgendwann zurückkommt." Am besten allerdings auch, bevor jemand irgendwen aus meiner Familie umbringen konnte.
„Bevor noch wer umgebracht wird, bleiben wir lieber beim Ignorieren. Du wirst sehen, so schlimm ist es nicht. Vor allem, wenn wir kein Sport haben. Und um das zu feiern, hole ich uns ein bisschen Tee und Kekse hoch. Bin gleich wieder da."
Sie war so schnell verschwunden, dass ich nicht einmal mehr erwähnen konnte, dass ich keinen Appetit hatte. Mit ihr löste sich jedoch auch der Optimismus auf, der mich kurzzeitig überkommen hatte. Lorenzo ignorieren. Wäre die Situation wirklich so, wie Tina annahm, wäre es sicher ein guter Ratschlag gewesen. Doch er war noch nie jemand gewesen, den man so einfach unbeachtet liegenlassen konnte.
Und selbst wenn er nicht wäre, gab es immer noch die unterschwellige Drohung, die er mitgebracht hatte. Gab es sonst irgendeinen Grund, weshalb er genau hier auftauchen sollte? Am liebsten wäre ich einfach aus dem Fenster gesprungen und abgehauen. Aber nicht einmal das war eine realistische Option. Nicht abgesprochen, viel zu auffällig, dumm.
Plötzlich fühlte ich mich eingeengt, als gäbe es nicht mehr genug Luft zu atmen. Ich setzte mich auf und fummelte an den Festergriffen herum. Eine quälende Ewigkeit später schwang das Fenster auf. Ein Schwall kühler Luft kam mir entgegen und ließ mich erschaudern.
Gerade die kalte Luft jedoch war es, die mich wieder auf den Boden der Tatsachen brachte. Dass sie uns gefunden hatten, war nur eine Möglichkeit. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten konnte Lorenzo schließlich auch aus Zufall auf der Akademie gelandet sein. Dann würde es jedoch auch nicht mehr lang dauern, bis er mich erkannte. Und nach all dem, was zwischen uns vorgefallen war, zweifelte ich nicht daran, dass die Information dann auf direktem Weg zu seiner Familie wandern würde.
Ich zwang mich, meinen Atem in der kalten Luft zu kontrollieren. Soweit würde es nicht kommen. Ich würde darauf achten, ihm nicht über den Weg zu laufen. Und dann war es nur noch eine Frage der Zeit, bis ich weitere Anweisungen bekommen würde. Bisher hatte es die Polizei immer geschafft, uns aus prekären Situationen herauszumanövrieren. Somit war meine beste Chance, einfach abzuwarten, auch wenn ich es aus tiefstem Herzen hasste.
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Der Ruf der Erde
ФэнтезиNie im Leben wäre Annalena auf die Idee gekommen, dass Magie tatsächlich existiert. Doch dann klopft genau diese zusammen mit einem Brief einer gewissen Grimm Akademie der Elemente an die Tür. Und als wäre das nicht schon unerwartet genug, findet si...