21 | Auro loquente omnis oratio inanis est

78 11 19
                                    

Hochkonzentriert balancierte ich den Stein in der Luft, während neue Blätter aus dem Ast sprossen. Je länger ich sie wachsen ließ, desto mehr zogen sie an meiner Magie. Kein gutes Zeichen. Irgendwas machte ich falsch.

Die Tatsache ignorierend fuhr ich fort, die Kanten des Steins abzurunden. Doch als ich ihn zu dem Baum hinüberschweben ließ, wartete nicht ein einziges großes Blatt auf mich, sondern mehrere kleine. Ich richtete den Strom der Magie auf eines der Blätter und zwang es, zu wachsen. Mit letzter Kraft legte ich die Steinkugel darauf ab.

Dann drehte ich mich zu Kathi um. Sie beäugte das Ergebnis mit schräggelegtem Kopf. Ihre Lippen zuckten kurz, bevor ihr ein Seufzer entwich.

„An sich nicht schlecht", sagte sie. „Aber du musst an deiner Koordinationsfähigkeit arbeiten. Und an der Genauigkeit. Du hast viel zu viel Energie auf die anderen Blätter verschwendet, das hätte nicht sein müssen."

Das war also das Problem gewesen. Hätte ich mir eigentlich auch selber denken können. „Lass uns da nächstes Mal weitermachen. Dann sollte es hoffentlich funktionieren", schlug ich vor.

„Gut, können wir gerne machen. Für die Herbstferien habe ich dir übrigens noch eine nette kleine Lektüre mitgebracht." Sie zog ein schmales Buch aus ihrer Tasche und reichte es mir. „Demnächst würde ich gerne mit den Affinitäten anfangen und dafür musst du leider ein paar Vorkenntnisse haben. Die Grundlagen solltest du schon aus Bio kennen, daher hoffen wir mal, dass das alles bis dahin klappt."

Ich drehte das Buch in meinen Händen. Grundlagen der menschlichen Anatomie. Etwas, was ich nie freiwillig gelesen hätte, außer ich wäre auf die Schnapsidee gekommen, Medizin studieren zu wollen. Ich wusste jetzt schon, dass sich meine halbherzige Aufmerksamkeit in Bio nun als Eigentor herausstellen würde.

„Ich werde es versuchen." Wie automatisch holte ich die Kugel vom Blatt und schoss sie mit meiner Magie irgendwo ins Gebüsch. Auch wenn es sinnlos war. Wer musste Spuren vernichten, wenn man nicht gerade ein Verbrechen begangen hatte?

„Super. Wir sehen uns dann spätestens übermorgen!" Kathi winkte mir noch einmal zu und beschleunigte dann ihre Schritte, um Matthias abzufangen.

Als die beiden etwas weiter entfernt waren, machte ich mich auch auf den Rückweg. Es war samstags und ein Uhr mittags, ich hatte also noch den ganzen Tag vor mir. Und das Wichtigste für den Tag war schon getan. Ein angenehmer Nebeneffekt, der aufgekommen war, nachdem der Monat Helfen bei Fräulein Schneider vorbei gewesen war.

In Zimmer zweihundertzehn war es ungewöhnlich voll. Leonie hatte einige Blätter vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet, Tina lag auf der faulen Haut und Thea brütete auf ihrem Bett über dem Mathebuch. Vermutlich lernte sie für die anstehende Klausur am Montag. Und vermutlich sollte ich damit auch mal anfangen.

Stattdessen setzte ich mich an den Schreibtisch und blätterte durch das Buch von Kathi. Es war viel, das ich für die Affinitäten kennen musste. Am besten fing ich jetzt schon mit Lesen an. Je schneller ich die Theorie drin hatte, desto früher konnten wir anfangen.

Nachdem ich mich durch die ersten paar Seiten gequält und bereits eine ganze Seite meines Collegeblocks gefüllt hatte, verließ Leonie das Zimmer. Kurz darauf stand Tina ebenfalls auf.

„Freunde, ich gehe dann auch mal", kündigte sie an. Dann fiel ihr Blick auf meinen Schreibtisch. „Musst du nicht auch irgendwann noch für Mathe lernen, Anna?"

„Sagt diejenige, die bis zum letzten Tag nichts getan hat", erwiderte ich.

„Auch wieder richtig. Weißt du was, ich unterstütze deine Prokrastination aus vollem Herzen. Wer braucht schon Mathe?"

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt