32 | Novas res intellegere

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Gerade als ich meine Schulsachen zusammensuchte, kam Tina aus dem Bad. Betont uninteressiert lehnte sie sich an den Türrahmen. Wäre da nicht der Punkt gewesen, dass sie um diese Uhrzeit trotz Freistunden schon wach war, wäre ich spätestens jetzt misstrauisch geworden.

„Was ist los?" Ich merkte selber, dass ich zu harsch klang. Müdigkeit und sich dann auch noch aktiv mit anderen Menschen beschäftigen vertrug sich nicht gut.

„Hast du wenigstens jemanden mitgenommen?", fragte sie.

„Zum Frühstück? Nein. Aber ich wüsste auch nicht, wo das ein Problem sein sollte." Vor allem hatte ich den Grund verpasst, weshalb es ihr Problem war.

Sie rollte die Augen. „Ich meinte gestern Nacht."

Ich steckte das letzte Buch ein und schloss die Tasche. „Was ich gestern Nacht gemacht habe, ist nicht deine Angelegenheit."

„Also warst du wirklich unterwegs."

Wortlos nahm ich meine Tasche und ging zum Eingang. Konnten wir das nicht besprechen, wenn ich nicht gerade Gefahr lief, zu spät zu Magie zu kommen? Oder noch besser, konnte sie nicht kurzfristige Amnesie bekommen? Ich machte mir eine geistige Notiz, Kathi demnächst mal danach zu fragen, wie man das auslöste. Das könnte in so einigen Situationen hilfreich sein.

„Anna, warte", sagte Tina, nun versöhnlicher. „Ich will dich wirklich nicht damit nerven, aber ich mache mir Sorgen."

Ja, ich machte mir auch Sorgen. Aber nicht nur über die Morde, sondern auch über so einiges anderes. Zum Beispiel, was ich gestern getan hätte, hätte ich nicht dank Lorenzos Vater genau gewusst, welche Knochen ich zu brechen hatte. Oder, wenn die Person ebenfalls Erdmagie gehabt hätte. Oder, wenn ich in diesem Raum verreckt wäre. Die Liste fing gerade erst an.

„Mir wird schon nichts passieren", sagte ich leichthin. „Und jetzt muss ich wirklich los. Bis später!"

Als ich in den Flur ging und die Tür ins Schloss fallen ließ, antwortete sie nicht mehr. Aus dem Augenwinkel sah ich bloß, dass sie ihr Handy rausgeholt hatte. Vermutlich hatte sie ihre seltsame Liste geöffnet. Sollte sie ruhig. Besser, sie war mit ihren eigenen Mordermittlungen beschäftigt, als dass sie meinen Ausflug letzte Nacht nochmal anschnitt.

Mit schnellen, energischen Schritten ging ich zur Trainingswiese der Zweitklässler. Hoffentlich würden wir heute irgendetwas anstrengendes machen. Ich musste irgendwie einen klaren Kopf bekommen. Es gab immerhin noch viel, dass ungelöst war. Was genau mit dem seltsamen Türschloss unter der Sporthalle losgewesen war, wer genau die Stöckelschuhfrau gewesen war, ob die Geheimgesellschaft ihre Treffen nun verlegen würde. Letzteres würde mit neunundneunzigprozentiger Sicherheit geschehen, es sei denn, sie wendeten umgekehrte Psychologie an und ließen uns nur im Glauben, sie hätten den Treffpunkt gewechselt.

Auch wenn ich gerade pünktlich kam, war auf der Wiese kaum etwas los. Vereinzelt standen Leute herum, viel weniger als noch vor dem Mord. Konrad und Sarah waren weg und wenn ich mich nicht irrte, auch einer von Konrads Freunden. Der konnte aber auch genauso gut noch später aufkreuzen.

Ich stellte mich an einen Baum am Rand, von dem man das gesamte Geschehen gut überblicken konnte. Außerdem war er nah genug an einer kleinen Gruppe, um zuzuhören, und weit genug entfernt, um trotzdem meine Ruhe zu haben.

Stück für Stück begann ich, das Chaos in meinem Kopf zu entwirren. Alles, was Thea betraf, kam in die eine Schublade, der Mord und die Nahtoderfahrung in die andere. Wie ich die Sache mit Thea lösen wollte, wusste ich noch nicht. Womöglich sollte ich dem Ganzen einfach Zeit lassen und schauen, wohin es sich entwickelte. Es war schließlich nicht so, als hätte ich...

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt