36 | Qui tacet, consentire videtur

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Es war, als wäre Lorenzo ein Phantom. Nichts weiter als ein kleiner Störenfried, der nichts groß anrichten konnte.

Denn es passierte nichts. In der nächsten Woche hörte ich weder etwas von der Polizei, noch von Lorenzo und seinen „Freunden". Mehr oder weniger unauffällig hatte ich mich bei meinen Eltern erkundigt, doch bei ihnen war alles normal.

Nachdem mein eigentlicher Plan, mich krankschreiben zu lassen, kläglich gescheitert war, war ich vorerst auf der Hut gewesen. Die ganze Zeit über hatte ich auf etwas gewartet, das nicht einmal eintreffen würde. Ganz aufgegeben hatte ich es nicht, aber zumindest zum Teil. Ich wusste, wie sie handelten, und so viel Zeit ließen sie sich selten. Vor allem nicht, wenn es um jemanden ging, der in der nächsten Sekunde schon wieder an einen unauffindbaren Ort gebracht werden konnte.

Also ließ ich mich treiben. Eine Stunde nach der anderen verging, dann ein Tag nach dem anderen. Mittlerweile war es schon wieder Donnerstagnachmittag und die Woche war beinahe vorbei.

Mit halbem Herzen beobachtete ich, wie Tom von einer Luftbändigerin fertiggemacht wurde. Seitdem er es nicht mehr schaffte, festen Boden unter die Füße zu bekommen, hatte er schon so gut wie verloren. In dieser Runde war er früh Risiken eingegangen und die hatten sich nun ausgezahlt. Allerdings eher für seine Gegnerin.

Ich unterdrückte ein Gähnen. Wenn man schon die Nächte schlecht geschlafen hatte, war so eine eher ereignislose Stunde ziemlich kontraproduktiv. Die Aufgabe war einfach gewesen: Drei Duelle mit drei verschiedenen Elementen zu machen. Es erübrigte sich zu sagen, dass ich mit meinen in Rekordzeit fertig war und dabei alle drei gewonnen hatte. Das konnte allerdings auch daran liegen, dass sowohl die Wasser- als auch die Luftbändigerin in mir vorerst ein leichtes Opfer gesehen hatte und nur der Feuerbändiger eine wirkliche Herausforderung dargestellt hatte.

So gut diese Ergebnisse aber auch waren, meine Aufmerksamkeit war auf ganz andere Themen gerichtet. Erstens, die Mafia. Trotz der Funkstille war mir die Situation eindeutig nicht geheuer. Und gleichzeitig rechnete ich schon halb damit, dass die Polizei in ihrem Job versagt hatte. Dass ich gar nichts mitbekam, obwohl Lorenzo direkt vor meiner Nase aufgetaucht war, behagte mir nicht.

Zusätzlich dazu kam ich auch immer mehr zu dem Entschluss, den Vorfall nicht von mir aus anzusprechen. Ich baute mir geradezu eine Illusion, dass alles okay war, solange nichts passierte. Denn ich hatte mich gerade erst hier eingewöhnt, neue Freunde gefunden, mein Talent im Elementbändigen gefunden. Ich wollte noch nicht weg. Leider würde genau das die Folge davon sein, dass unsere Bekannten aus Italien wieder im Spiel waren.

Die zweite Angelegenheit war da um einiges positiver: Es gab eine neue Spur in Sachen Schwarze Königin. Mit Theas Hilfe hatte Max einen Weg gefunden, sich einmal genauer in Frau Schwabs Büro umzusehen. Vor ein paar Tagen hatte Tom nämlich angedeutet, dass es dort Hinweise geben sollte. Nun lag es gegen Stundenende an mir, Frau Schwab wenigstens für ein paar Minuten beschäftigt zu halten, damit er dem Büro einen kurzen Besuch abstatten konnte.

Wenn man es also genau nahm, war ich trotz Langeweile gerade ziemlich gut beschäftigt. Einmal damit, mir ein ausreichend relevantes Gesprächsthema auszudenken, und zum anderen damit, Lorenzo aus dem Weg zu gehen. Trotz der Schnapsidee, den Magieunterricht mit allen Elementen zusammenzulegen, hatte das bisher äußerst gut funktioniert. Eine langfristige Lösung war es allerdings immer noch nicht, da musste ich mir ebenfalls etwas einfallen lassen.

Als die Stunde endlich vorbei war, tat ich, als würde ich angestrengt irgendwas in meiner Tasche suchen, bis ich Lorenzo zum Schloss gehen sah. Dann steuerte ich geradewegs auf Frau Schwab zu. Sie war gerade dabei, sich mit Frau Collet zu unterhalten. Möglichst unbeteiligt blieb ich ein wenig von den beiden entfernt stehen. Noch besser, wenn sich das Problem mit dem Ablenken gleich von selbst löste.

Doch leider wurde mir dieser Wunsch nicht erfüllt. Die Schulleiterin bemerkte mich, wimmelte Frau Collet mit einem „Da reden wir morgen nochmal drüber, irgendeine Lösung wird sich finden" ab und wandte sich an mich.

„Kann ich dir helfen?"

„Ich habe nur eine kurze Frage zum sechsten Sinn", ratterte ich hinunter, was ich mir überlegt hatte. „Bisher funktioniert es noch nicht, Dinge sehr weit unter der Erde an die Oberfläche zu bringen. Wie genau macht man das?"

Sie sah widerwillig beeindruckt aus. „Das ist schon ziemlich fortgeschrittene Magie."

„Deshalb frage ich ja. Mein Treffen mit Kathi habe ich erst morgen und eigentlich wollte ich den Tag heute nutzen, um davor ein bisschen zu üben."

„Eigentlich solltest du damit trotzdem besser auf Kathi warten, das Ganze ist ziemlich komplex." Als sie meinen enttäuschten Gesichtsausdruck sah, lenkte sie ein: „Aber ich kann es dir auch einmal zeigen. Auch wenn das nicht genug sein wird, um es vollständig zu verstehen."

Ich nickte und fütterte den sechsten Sinn mit ein wenig Magie. Sie deutete auf den Boden direkt zwischen uns. „Da unten."

Mit einem Mal begann die Erde sich zu verschieben. Nicht viel, gerade so, dass sich ein kleiner Steinbrocken in Richtung Oberfläche schieben konnte. Doch das war nicht einmal das faszinierendste. Ohne den sechsten Sinn hätte ich nicht einmal mitbekommen, dass sich unter der Erde überhaupt etwas tat. Der Raum, der eigentlich hinter dem Stein freiwurde, füllte sich sofort wieder auf. Das ging immer so weiter, bis er schließlich direkt vor unseren Füßen lag.

Ich ließ meine Magie wieder los. „Also nach oben drücken und drumherum platzmachen, aber so, dass alles ausgeglichen ist", versicherte ich mich.

„Genau. Für gewöhnlich geht es aber schneller vor sich. Tut mir wirklich leid, dass ich gerade nicht so viel Zeit habe, die Leute vom Rat wollen sich unbedingt nochmal treffen. Sprich am besten am Freitag nochmal mit Kathi, die zeigt dir dann die Details."

Sie wandte sich gerade ans Gehen, als ich hinterherschob: „Das war wirklich hilfreich, danke. Eine Sache aber noch."

Was genau ich noch besprechen wollte, wusste ich selber nicht. Das Einzige, das ich wusste, war, dass noch keine Nachricht von Max angekommen war. Er brauchte noch mehr Zeit.

„Ja?" Frau Schwab drehte den Kopf.

„Ich... wollte noch etwas wegen der Maispiele fragen." Reiß dich zusammen, schnauzte ich mich selbst in Gedanken an. Normalerweise funktioniert das doch besser mit dem Improvisieren.

Sie sah mich fragend an, also redete ich einfach drauf los. „Ich habe mich bisher noch nicht angemeldet, irgendwie hat es sich in der letzten Woche nicht ergeben. Aber wäre es auch möglich, an den Wettbewerben der dritten Stufe teilzunehmen?"

Frau Schwabs Miene wurde immer ungläubiger. „Bist du dir sicher, dass du das machen möchtest?"

„Es wäre also möglich?"

„Möglich bestimmt. Es würde aber ein sehr großer Unterschied zu dem Niveau des zweiten Jahres sein, daher ist es vermutlich nicht sehr sinnvoll."

In dem Moment fing mein Handy an, zu vibrieren. Es war genau der Rhythmus, den ich für Max eingespeichert hatte. Endlich. Unwillkürlich entspannte ich mich ein wenig.

Die Schulleiterin jedoch interpretierte mein Schweigen ganz anders. „Wenn du es unbedingt möchtest, werde ich schauen, was sich machen lässt. Vorher würde ich aber gerne noch einmal bei Kathi und dir vorbeischauen, nur zur Sicherheit. Passt morgen für dich?"

„Ja, aber...", begann ich unschlüssig.

Gleichzeitig warf sie einen Blick auf ihre Uhr. „Gut, dann bis morgen, ich muss jetzt wirklich los." Sie lächelte schwach. „Obwohl ich diese Ratsleute auch unglaublich gerne richtig warten gelassen hätte."

Damit ging sie in Richtung Schloss und ließ mich einfach stehen. Überfordert, wie ich war, holte ich erst ein paar Sekunden später mein Handy heraus. Max hatte mir tatsächlich geschrieben und alles war nach Plan gelaufen. Zumindest bei ihm. Ich fürchtete, aus der Nummer mit den Maispielen würde ich so schnell nicht mehr herauskommen.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt