38 | Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris

63 5 3
                                    

Jede Faser meines Körpers schrie Lauf. Er würde die Ursache sein, dass meine Familie zerstört werden würde. Er hätte meine Familie beinahe zerstört. Wegen ihm hatte mein Vater fast dem Tod ins Auge geblickt.

Doch gleichzeitig konnte ich nicht anders, als ihn anzustarren. Seine dunklen Locken, die schokoladenbraunen Augen, die perfekte gerade Nase. Ich wartete auf die Grübchen, die sich immer zeigten, wenn er ehrlich über etwas lachte. Sein vertrauter, frischer Geruch weckte Erinnerungen an die Zeit, in der ich glücklich gewesen war. In der wir glücklich gewesen waren.

„Du spielst also immer noch", sagte er nach einer Weile.

Hitze übernahm meinen gesamten Körper. Das Klavierspielen. Letztendlich hatte es mich doch verraten. Wie hatte ich nur so dumm sein können? So dumm, so leichtsinnig.

Er legte den Kopf schräg. „Warum hast du dein Feld eigentlich auf Begleitung ausgeweitet? Obwohl Kathi nicht schlecht ist, muss ich sagen."

Ich wollte irgendetwas tun, irgendetwas sagen. Warum rannte er nicht einfach zu seiner Familie? Er hatte mich doch offensichtlich erkannt. Da brauchte er nicht so freundlich tun. Vor allem nicht, nachdem ich ihn derart schmerzvoll abserviert hatte.

„Lia?"

Das brachte den Damm zum Brechen. Ich atmete tief ein. Jetzt oder nie.

„Wie lang stehst du schon hier?"

„Seitdem ich jemanden spielen hören habe, der genau dieselben kleinen Verschönerungen einbaut wie du."

„Seit wann, Lorenzo?"

Wir wussten beide, dass es nicht mehr um den Musikraum ging, sondern um etwas, das um einiges größer war. Um etwas, das relevanter war.

„Später als gedacht. Du hast dich verändert."

„Und du kein bisschen", schoss ich zurück. „Wie oft habe ich gesagt, dass diese Zigaretten dich noch umbringen werden?"

Sein linker Mundwinkel zuckte. Seine Augen aber waren verschattet, düster. „Ich bin dir also doch nicht egal. Süß."

„Oh doch", log ich. „Ich würde nur furchtbar gerne wissen, was du so plötzlich hier zu suchen hast. Und dazu werden wir jetzt zurück in den Raum gehen. Wenn du mich unbedingt umbringen möchtest, kannst du es da auch ganz ohne eine Szene machen."

„Wer sagt, dass ich dich umbringen möchte?" Er folgte mir ohne Widersprüche und machte sogar die Tür hinter sich zu. Seltsamerweise beruhigte mich das ein klitzekleines Stückchen.

„Wozu bist du dann da?"

„Ehrlich, wenn ich gewusst hätte, was für eine Paranoia du entwickelt hast..."

„Wozu?" Meine Stimme schnitt durch die Stille.

„Das weißt du selber. Auslandsjahr, Austausch, was auch immer. Dieses Programm, das sie hier am Laufen haben."

Ich schnaubte. „Ernsthaft? Du bist hier aufgetaucht, nicht ich. Wenn du mir jetzt nicht genau erklärst, was zum Teufel du an dieser Schule machst, werde ich einfach gehen."

„Genauso gut kannst du mir erzählen, wie du hierhergekommen bist. Kommt aufs selbe hinaus."

Lang schlummernde Wut erwachte in meiner Brust und fraß sich durch meine Adern. Vor allem, als ich seine provozierend hochgezogenen Augenbrauen sah. Meine Fingernägel gruben sich in meine Handflächen.

„Gut, wie du willst", presste ich hervor, drehte mich auf dem Absatz um und lief zur Tür.

Ich hatte schon eine Hand auf der Türklinke, als sich seine auf sie legte. Sie war warm und vertraut. Als ob das nicht schon schlimm genug war, schob sich sein Ärmel ein wenig hoch und die altbekannten Tattoos lugten hervor. Ich schluckte.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt