4 | Insomnia

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Reflexartig rettete ich mich hinter ein saitenloses Cello und von da aus unter einen schwarzen Konzertflügel. Adrenalin rauschte durch meine Adern. Ich hatte ganz vergessen, wie sich das anfühlte. Sowohl auf eine gute als auch eine schlechte Weise.

Mehrere Personen gingen durch den Raum. Mindestens eine davon war männlich, eine trug High Heels. Ich wünschte, ich könnte wenigstens einen kleinen Blick auf sie erhaschen. Es würde mich wirklich interessieren, wer um diese Uhrzeit noch in einer großen Gruppe unterwegs war.

Doch es ergab sich keine Chance. Ich klemmte so unvorteilhaft unter dem Klavier, dass große Bewegungen Geräusche gegeben hätten. Und ich hatte das Gefühl, es war besser, wenn ich unbemerkt blieb.

Anstatt meine Position zu verändern, lauschte ich auf weitere charakteristische Laute. Wer würde bitte mit Stöckelschuhen um zwanzig nach zehn in den Orchestergraben wollen? Die Stöckelschuhe schlossen eine Gruppe Schüler, die Mitternachtstreffen veranstalten hätten wollen, schonmal aus. Das hätte sich niemand angetan. Außerdem, warum gerade der Orchestergraben?

Eine geheime Orchesterprobe war ebenfalls unwahrscheinlich. Warum sollte man so etwas nicht in offiziellem Rahmen veranstalten? Egal, was hier los war, es war mit Sicherheit nicht für aller Augen gedacht. Irgendwas war im Busch. Ich hätte zu gerne gewusst, was.

Die nächste Stunde kamen und gingen die Menschen. Immer wenn ich dachte, dass sie jetzt im Graben bleiben würden, kam wieder jemand heraus. Ich war heilfroh, dass ich wenigstens mitgezählt hatte, wie viele raus und reingekommen waren. Das brachte mir natürlich nur etwas, wenn es nicht noch einen zweiten Ausgang gab. Was ebenfalls eine Möglichkeit wäre. Dann hätte ich eher auf die Schrittklangfarbe achten sollen. Aber irgendwo gab es auch Grenzen.

Zwei weitere Stunden später, in denen mein Fußgelenk schon angeschwollen war, befand sich laut meiner Zählungen nur noch eine Person im Orchestergraben: Die mit den Stöckelschuhen. Morgen musste ich unbedingt mal darauf achten, wer alles solche Schuhe trug. Mittlerweile war meine Neugier nämlich nur noch schlimmer geworden. Zum meinem Pech hatte keine einzige der Personen ein Wort von sich gegeben.

Ich musste nur noch zehn Minuten warten, bis auch diese Person weg war. Endlich. Innerhalb von Sekunden war ich aus meinem Versteck gekrochen und hatte den verstaubten Raum ebenfalls verlassen. Auf dem Weg in mein Zimmer warf ich einen Blick auf meine Handyuhr. Ein Uhr vierzig. Morgen würde ich sowas von müde sein.

Mit beinahe zufallenden Augen öffnete ich die Tür und schlich ins Zimmer. Nur der regelmäßige Atem schlafender Personen erfüllte den Raum. Ich hatte Glück, sie hatten nicht auf meine Rückkehr gewartet. Sonst wäre ich jetzt wirklich in Erklärungsnot geraten.

Sehnsüchtig sah ich ins Bad. Eine heiße Dusche wäre schon nötig gewesen, aber ich wollte keinen aufwecken. Dann musste das also bis morgen warten. Leise fischte ich frische Schlafsachen aus meinem Schrank und versenkte die Sportklamotten in der Dreckwäsche.

Als ich endlich ins Bett fiel, traf mein Blick auf das zweite Bett in meiner Zimmerhälfte. Thea saß an die Wand gelehnt da, die Augen weit offen. Und direkt auf mich gerichtet. Nicht auch noch das.

Mit hektischen Gesten versuchte ich ihr klarzumachen, dass sie schlafen gehen sollte und bloß keinem davon erzählen durfte. Als ich mir halbwegs sicher war, dass sie verstanden hatte, was ich meinte, kuschelte ich mich tief in meine Decke. Innerhalb der nächsten Sekunden war ich eingeschlafen.

***

Ein penetrantes Piepsen riss mich aus dem Schlaf. Ich blinzelte und sah auf das Display meines Handys. Fünf Uhr fünf. Eigentlich hatte ich mir ein bisschen mehr als drei Stunden Schlaf erhofft. Aber es war ja auch nicht mein Wecker, der gerade klingelte, als gäbe es kein Morgen.

„Kann jemand diese Höllenmaschine bitte mal abschalten?", stöhnte Tina. „Wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, um fünf Uhr aufstehen zu wollen?"

„Leonie", sagte ich und gähnte. „Du teilst dir eine Hälfte mit ihr, mach du den bitte aus."

„Spinnst du? Ich gehe doch nicht freiwillig aus dem Bett."

„Was weiß ich, dann wirf halt ein Kissen. Hauptsache, dieser Lärm hört auf."

„Aber ich brauche mein Kissen noch", rief Tina gegen das immer lauter werdende Piepsen des Weckers an.

„Leonie kann es dir ja dann zurückwerfen."

„Eben nicht. Die schläft noch."

Das war doch wieder typisch. Einer stellte sich den Wecker und alle anderen wachten auf. Glaubte ich zumindest. Ich sah einmal zu Theas Bett. Wie erwartet traf ich dort auf ihren beobachtenden, stillen Blick. Mit ihr hatte ich heute auch nochmal ein Wörtchen bezüglich letzter Nacht zu reden.

„Bevor ich hier noch einen Gehörsturz kriege: Ich mach's", erbarmte sich Tina endlich. Einen Moment später kehrte wieder Stille ein. Thea und ich wechselten einen erleichterten Blick.

„Und wenn wir jetzt schon wach sind, müssen wir einige Dinge klarstellen", sagte Tina. „Damit es vielleicht doch nicht so schlimm wird, mit drei anderen Leuten in einem Zimmer zu wohnen."

Es raschelte, dann war Leonie zu hören. „Tina? Was soll das? Es ist fünf Uhr, ich will schlafen."

„Das wollten wir alle, bis dein Wecker uns einen Strich durch die Rechnung gemacht hat", stellte diese klar. „Tut mir leid, aber das musst du jetzt mit ausbaden. Und bei der Gelegenheit kannst du auch mal erklären, wie du dazu kommst, um fünf Uhr aufstehen zu wollen."

„Oh." Leonie machte eine kurze Pause. „Das war wegen gestern, ich glaube, ich habe vergessen, den umzustellen. Wenn man von der Nordsee herfahren möchte, dauert das eine ganze Weile."

„Okay, in dem Fall verzeihe ich dir. Hat wer was dagegen, dass mordslaute Wecker am Wochenende erst ab neun gestellt werden?"

Absolut nicht. Das dachten sich die anderen anscheinend auch.

„Kein Kommentar? Gut, das werte ich als ja. Sonst noch irgendwas, von dem wir alle wissen müssten?"

„Nichts besonders Wichtiges, aber mich würde schon interessieren, wo Anna gestern Abend war", sagte Leonie. Ich hätte ihr den Hals umdrehen können.

„Das ist allerdings eine gute Frage", stimmte Tina ihr auch noch zu. „Also, Anna, was war so wichtig, dass du die Nachtruhe direkt am ersten Tag ignoriert hast? Nicht, dass es mich stören würde, aber wäre interessant zu wissen."

Das lief ja fantastisch. Fehlte nur noch, dass Thea den beiden unter die Nase rieb, dass ich erst kurz vor zwei zurückgekommen war.

„Ich bin beim Laufen mitten im Wald umgeknickt", improvisierte ich. „Ihr könnt euch ausmalen, wie der Rückweg abgelaufen ist."

„Uh", machte Tina. Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie sie ihr Gesicht verzog. „Klingt unangenehm. Wie geht's deinem Fuß jetzt?"

Ich spähte unter die Bettdecke. „Ist immer noch angeschwollen. Aber gerade ist es in Ordnung."

„Das nächste Mal weckst du mich einfach, ja? Dann hätte ich dir helfen können. Hast du ihn gestern schon gekühlt?"

Ein lautes Schnarchen ertönte. Es kam aus Leonies Richtung. Tina seufzte.

„Gut, ich sehe ein, dass fünf Uhr nicht gerade die beste Zeit ist, um wichtige Treffen abzuhalten." Sie gähnte herzhaft. „Lasst uns einfach noch ein paar Stunden schlafen."

Das fanden wir alle eine gute Idee, und wenige Minuten später hörte ich auch schon Tinas tiefen, regelmäßigen Atem. Meinen Fuß hatte sie komplett vergessen. Was mir allerdings sehr recht war. Wenn das Thema nicht aufkam, stellten die Leute keine unangenehmen Fragen.

Jetzt blieb nur noch eine Sache offen. Ich kletterte aus dem warmen, gemütlichen Bett und ging rüber zu Thea. Sie sah mich mit großen, grauen Augen an.

„Ins Bad. Jetzt", zischte ich.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt