6 | Nemo censetur ignorare legem

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Der Weg bis zum Büro der Schulleiterin kam mir wie eine Ewigkeit vor. Teilweise lag es an den unangenehm bohrenden Blicken, denen wir die ganze Zeit über ausgesetzt waren. Das hatte man wohl davon, wenn man Experimente aus dem Mittelalter machte.

Irgendwann waren wir glücklicherweise angekommen. Die Frau, vermutlich eine Lehrerin, klopfte an der Tür. Wir warteten eine, zwei Minuten. Als sich dann immer noch nichts tat, gab sie auf. Sie deutete auf ein paar Stühle, die im Flur standen.

„Ich gehe jetzt Frau Schwab suchen. Ich empfehle euch sehr, euch nicht von der Stelle zu bewegen, bis ich zurück bin. Und euer Experiment würde ich auch gerne mitnehmen."

Sie streckte die Hand aus. Widerwillig platzierte Lukas das rußbeschmierte Reagenzglas darin. Der schwarze, verkohlte Klumpen darin sah traurig aus. Ohne ihn oder uns eines weiteren Blickes zu würdigen eilte die Frau den Flur hinunter. Ihre hohen Schuhe klackerten laut auf dem Steinboden.

Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und stützte frustriert die Ellbogen auf meine Oberschenkel. Erst einen Tag war ich hier, und schon saß ich vor dem Büro der Direktorin. Kein besonders guter Anfang. Obwohl es dieses Mal nicht mal ganz eigenverschuldet war.

Lukas sah noch eine Zeit lang seinem Experiment nach. Nach einer Weile gab er es aber auf und gesellte sich zu mir. Er schien jedoch nicht in der Stimmung zu sein, sich zu unterhalten.

Meine Gedanken wanderten wie von alleine von dem Feuer zu der vermutlichen Lehrerin. Stöckelschuhe. Es gab keinen Weg, wie ich das nicht hätte bemerken können. War sie diejenige gewesen, auf die ich gestern getroffen war? Hatte es im Orchestergraben vielleicht ein Lehrertreffen gegeben, das aus irgendwelchen Gründen nicht im Lehrerzimmer hatte stattfinden können?

Ich stieß genervt die Luft aus. Diese Überlegungen brachten mich doch auch nicht weiter. Ich hatte keine Spur, die ich gerade weiterverfolgen konnte. Das Einzige, was ich wusste, war, dass die Stöckelschuhfrau, wer auch immer sie war, von zwanzig nach zehn bis halb zwei nicht in ihrem Bett gewesen war. Damit konnte ich nichts anfangen.

Wenn ich wirklich etwas über dieses Treffen herausfinden wollte, musste ich mich erneut im Instrumentenraum auf die Lauer legen. Das bedeutete, ich musste irgendwie an meinen Mitbewohnerinnen vorbeikommen. Noch einmal würden sie mir etwas wie einen verletzten Fuß nicht abnehmen. Und als wäre das nicht schon kompliziert genug, wusste ich nicht mal, ob das Treffen von gestern regelmäßig stattfand. Wahrscheinlich würde ich im besten Fall mehrere Nächte umsonst eingequetscht unter einem Klavier verbringen. Im schlimmsten Fall war das Treffen nur eine einmalige Sache.

„Anna?", fragte Lukas plötzlich.

Ich sah auf. Musste es gerade jetzt sein, wo ich dabei war, meine nächsten Schritte zu planen? „Ja?"

„Tut mir leid, dass ich dich mit hiereingezogen habe."

Das hättest du dir vorher überlegen sollen, dachte ich. Bevor du mich quasi dazu genötigt hast, dir zu helfen. Ich biss mir jedoch auf die Zunge und antwortete: „Es war meine eigene Entscheidung. Da ist nichts, wofür es dir leidtun müsste."

„Trotzdem. Und das Experiment ist nicht mal etwas geworden."

Ich hob die Augenbrauen. Da hatte wohl jemand gehörig schlechtes Gewissen.

„Wie wäre es damit: Du hast was gut bei mir. Egal wann, und egal was. Deal?"

„Hm", machte ich unentschlossen. Einerseits fiel mir gerade kein konkretes Szenario ein, in dem ich seine Fähigkeit, Dinge unkontrolliert in Brand zu setzen, gebrauchen konnte. Doch andererseits – wer wusste schon, was er abseits seiner Katastrophenideen noch konnte? Es schadete auch nie, wenn einem wer einen Gefallen schuldete. Und wenn ich damit auch noch sein schlechtes Gewissen beruhigte, war das eine Win-Win-Situation.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt