41 | Faber est suae quisque fortunae

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Ich stöhnte. „Ich verstehe es immer noch nicht. Warum braucht man da jetzt dieses Limes-Zeugs?"

Thea hingegen war die Geduld in Person und deutete erneut auf ihre Skizze. „Die Geschichte mit der Sekante hast du verstanden, oder?"

„Das haben wir schon irgendwann ganz früher mal gemacht. Ich denke schon."

„Das ist gut. Was wir jetzt machen, um die Tangente herauszufinden, ist, den Abstand zwischen den zwei Punkten so weit es geht zu verringern. Der Abstand wird in der Formel durch das h beschrieben. Er soll irgendwann gegen Null gehen, aber die Null kannst du noch nicht einsetzen, weil das h noch im Nenner steht. Und der Limes ist nur dafür da, zu sagen, dass das h mal gegen Null gehen soll."

Das sogar halbwegs logisch. Doch direkt bei der nächsten Aufgabe scheiterte ich schon wieder. Ich hasste Mathe wirklich aus tiefstem Herzen. Aber es half nichts. Bis zur nächsten Klausur musste ich das können.

„So eine Scheiße", entwich es mir, als ich schon wieder nicht die richtige Ableitungsfunktion raushatte. „Warum kann das nicht ein einziges Mal funktionieren?"

„Das ist doch schonmal der richtige Ansatz", versuchte Thea, mich aufzumuntern. „Du hast diesmal nur ein Vorzeichenfehler drin, das erste Plus beim zweiten Schritt muss ein Minus sein. Und die Ableitungsregeln kannst du ja. Diese h-Methode braucht man später ohnehin nie mehr."

„Warum machen wir das dann überhaupt?" Ich war wirklich nahe der Verzweiflung.

„Weil das Schulsystem von Sadisten erfunden wurde", steuerte Tina von der anderen Seite des Zimmers bei.

„Danke, dass mir wenigstens einer da zustimmt."

„In zwei Jahren sind wir durch", sagte Thea. „Das ist doch was Gutes, oder?"

„Und in diesen zwei Jahren schreiben wir zufällig noch Abi." Tina klang ganz und gar nicht danach, dass sie die Vorstellung positiv fand. Irgendwo konnte ich es verstehen.

„Erinnere mich nicht daran. Ich weiß immer noch nicht, ob ich lieber Bio oder Mathe meinen Schnitt versauen lassen möchte." Ich legte meine Mathesachen zur Seite. „Das hier ist eine absolute Folter, das ertrage ich nicht noch eine Stunde."

„Dann-", begann Tina. Im selben Moment flog die Zimmertür auf und Leonie stürmte hinein.

„Hat wer meine Notizen für das Catering für den Ball gesehen?"

„Nee", sagte ich, Thea schüttelte den Kopf.

Tina stand auf. „Ich auch nicht, aber ich kann dir suchen helfen."

Leonie rannte zum Schreibtisch. „Danke. Ich brauche die in fünf Minuten, es ist wirklich dringend. Mist!" Ein paar Dinge schepperten zu Boden.

„Ist es das hier?", fragte Tina und ein Rascheln von Blättern ertönte.

„Nein, aber das habe ich auch schon vermisst. Gib die Mappe da drüben bitte auch gleich mal rüber, die brauche ich heute auch noch."

„Die gelbe?"

„Genau, danke." Durch einen kleinen Freiraum im Bücherregal sah ich, wie wieder etwas vom Tisch abrutschte. Gleichzeitig nahm Leonie die Mappe entgegen. Und unglücklicherweise klingelte dann auch noch ihr Handy.

Während sie versuchte, den Stapel festzuhalten, nahm sie ab. „Ja? Oh, klar, kann ich machen... Ja, die bringe ich mit. Gib mir noch fünf Minuten."

Direkt als sie aufgelegt hatte, sagte Tina: „Leonie, die Mappe!"

Leonie fluchte. Noch mehr Dinge rutschten zu Boden. Viel zu spät sprang ich von meinem Bett auf, in der Hoffnung, bei den beiden noch irgendetwas retten zu können. Doch es half nichts mehr. Ich kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Leonie die Mappe aus der Hand rutschte und sich die darin befindenden Blätter überall im Zimmer verstreuten. Beziehungsweise, auch außerhalb des Zimmers, denn das Fenster stand sperrangelweit offen.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt