43 | Mors certum, hora incerta

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Ihr Geständnis riss mir den Boden unter den Füßen weg. Kathi, der Lehrerliebling schlechthin, hatte Frau Collet umgebracht? Das konnte nicht sein. Schon allein aus dem Grund nicht, dass es Kathi war. Diejenige, die mir so viel über Magie beigebracht hatte, obwohl sie nichts davon zurückbekam. Die, der ich selbst meine Leidenschaft fürs Klavierspielen anvertraut hatte.

„Das warst du nicht", widersprach ich. „Irgendjemand, vermutlich eine Anhängerin von hochgefährlichen Alchemisten, bringt die Leute alle nacheinander zum Morden. Thea, Max und ich haben Informationen gesammelt und es macht alles Sinn."

Verzweifelt rang sie die Hände. „Glaubst du, ich wüsste das nicht?"

„Du..." Moment. Sie wusste davon? Sie wusste alles? „Wie?"

„Aus demselben Grund, aus dem ihr die Phoenix-Dokumente bekommen habt."

Wir hatten... „Was?"

„Ich weiß, das ist eine ziemliche Überraschung, aber wir haben ohnehin schon zu wenig Zeit."

Überraschung war untertrieben. Wenn mich schon der Fakt, dass sie die nächste Mörderin war, aus der Bahn geworfen hatte, hatte das hier die Bahn endgültig zerstört. Und so konnte ich nur zuhören.

„Was passiert ist, ist folgendes", fuhr sie fort. „Der Plan, die Tür zu inspizieren, stand schon seit eurem Besuch dort unten. Dass das magiefressende Metall das von der zurückschießenden Sorte ist, haben wir auch schon länger vermutet. Daher auch die lange Vorbereitungszeit. Ich habe mich ein wenig in das Thema eingelesen und Frau Schwab hat Frau Collet beigebracht, wie man die überschüssige Energie wieder loswerden kann. Eigentlich ein idiotensicherer Plan.

Aber als wir ihn dann umgesetzt haben, ist viel zu viel Magie zurückgekommen. Selbst darauf waren wir vorbereitet. Während sie den Umgang mit der Magie gelernt hat, habe ich auch die Methode studiert, wie man sie von außen wieder aus dem Blut einer Person bekommt. Leider erfordert besagte Methode, dass man die Magie zusammen mit dem Blut der Person entleert. Ziemlich gefährlich, da es leicht zum Verbluten kommen kann. Deshalb war es auch nur der Notfallplan. Und ich habe die Grenze zwischen retten und töten nicht richtig getroffen und sie ist..."

Sie erschauderte und verstummte. Dann fing sie sich wieder. „Jedenfalls, das ist noch nicht alles. Während ich das Blut mit der schädlichen Magie ausfließen und ersetzen lassen hatte, hatte ich die gesamte Zeit über den Eindruck, die überschüssige Magie wäre noch vorhanden. Das Problem daran war, dass der Prozess so viel Konzentration gefordert hat, dass ich gar nicht daran gedacht habe, den sechsten Sinn einzusetzen. Stattdessen habe ich mich auf meine restlichen Sinne verlassen."

Ich ahnte schlimmes. Je mehr sie erzählte, desto sicherer ließen sich die Puzzleteile zusammensetzen.

Sie schluckte. „Ich habe erst bemerkt, dass da nichts Schädliches mehr war und ich sie verbluten lassen habe, als es schon zu spät war. Erst bin ich davon ausgegangen, dass es mein eigener Fehler gewesen ist und habe versucht, die Situation irgendwie zu retten. Aber da war nichts mehr zu retten. Das Einzige, was ich mit dem sechsten Sinn noch spüren konnte, war eine dritte Person im Raum, die offensichtlich unsichtbar war."

„Die Wasserbändigerin", fand ich meine Stimme wieder.

Kathi nickte. „Sie ist direkt sichtbar geworden, als ich in ihre Richtung geschaut habe. Ich habe sie noch nie in meinem Leben gesehen, mittellange blonde Haare, ein stechender Blick. Daraufhin ist mein Fluchtinstinkt erwacht und ich bin auf direktem Weg zu dir gekommen."

Kurz war ich wieder sprachlos. Auf direktem Weg? War ich ein so wichtiger Teil des Ganzen, dass ich vor allen anderen informiert werden musste?

„Warum nicht zu Frau Schwab?", fragte ich.

„Das wäre kontraproduktiv. Sie steht wegen ihrer Theorien mit der Schwarzen Königin ohnehin schon unter Beobachtung vom Rat. Was glaubst du, was passieren würde, wenn sie herausfinden, dass sie direkt nach dem Mord mit mir geredet hat? Wir können nicht unseren einzigen Trumpf gegen diese Morde ins Jenseits schießen. Wenn sie weg vom Fenster ist, haben wir keine Chance mehr."

„Aber sie muss trotzdem davon erfahren."

„Genau, und zwar durch dich. Informiere am besten auch noch Max und Thea, und versucht, die Morde so schnell es geht aufzuklären."

„Wie sollen wir..."

„Ihr schafft das schon. Und ihr seid nicht allein. Frau Schwab tut alles, was im Rahmen des Möglichen ist, um euch zu helfen. Ohne sie wärt ihr nicht mal in die Nähe der Phoenix-Dokumente gekommen. Matthias weiß auch über alles Bescheid und Fräulein Schneider ebenfalls. Falls es ganz schlimm wird, könnt ihr auch noch Herrn Emerson mit einbeziehen. Ich würde das aber wirklich nur im äußersten Notfall tun, er ist ein wenig hin und hergerissen zwischen seiner Verantwortung der Schule und dem Rat gegenüber."

Mein Kopf begann langsam zu rauchen. So viel Wichtiges in so wenig Zeit. Kathi hatte es mal eben so geschafft, alle unsere bisherigen Ermittlungen über den Haufen zu werfen.

„Wie soll ich an Frau Schwab drankommen? Wenn die Situation wirklich so angespannt ist, ist das nahezu unmöglich."

„Denk dir was aus. Irgendwie wird es funktionieren, ob nach dem Fund von Frau Collet oder davor."

Davor war kritisch, weil ich eine direkte Verbindung zu Kathi war, danach war ohnehin unmöglich. Wie sollte ich da eine Möglichkeit finden?

„Offiziell bin ich gerade gar nicht hier, sondern mit Matthias in seinem Zimmer. Wenn alles gutläuft, hast du also durchaus noch Chancen. Deshalb geh am besten jetzt."

Ihre Argumente waren überzeugend, doch einfach zu gehen fühlte sich so falsch an. „Und was ist mit dir?"

„Mach dir um mich keine Sorgen, ich komme zurecht." Ihre Stimme war fest, entschlossen. „Konzentriere dich darauf, dass ihr die Wasserbändigerin und ihre Komplizen findet. Der Rat wird es erst akzeptieren, wenn er die Schuldigen und die Beweise auf dem Silbertablett präsentiert bekommt."

„Und was, wenn wir es nicht hinbekommen?"

„Dann müssen wir alle mit den Konsequenzen unseres Handelns leben, auch wenn sie unfair sind."

Als wüsste sie, dass ihre Antwort mich nicht unbedingt erleichterter fühlen ließ, schob sie hinterher: „So ist es nun mal, es gibt keinen Grund, es gutzureden. Aber lass uns nicht vom schlimmsten Fall ausgehen. Warte auf einen Fehler der Wasserbändigerin, und nutze ihn aus. Das wirst du hinkriegen."

An sich eine gute Idee, nur machte die Geheimorganisation keine Fehler. Bisher hatte sie keine gemacht. Wir kannten die Identität der Wasserbändigerin nicht, wir wusste nicht mehr, wo sie sich trafen, wer das nächste Opfer und der nächste Täter sein würde.

Doch Kathi hatte recht, das Einzige, was wir tun konnten, war, ihnen weiter nachzugehen und irgendwie auf einen Fehler zu warten. Jedem musste irgendwann einer unterlaufen. Und dann lag es an uns, genau dort anzusetzen.

„Du kennst jetzt den Plan", sagte Kathi schließlich. „Es wird alles funktionieren. Und jetzt geh und verschwende nicht noch mehr Zeit."

Ich nickte, spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle bildete. Es klang so endgültig. Wenn ich diesen Raum verlassen würde, wäre sie auf sich allein gestellt, genauso wie ich vorerst. Doch wenn ich versagte, traf es nicht mich, sondern sie.

Verschwende nicht noch mehr Zeit.

Ich drehte mich um und ging zur Tür. Ein letztes Mal sah ich zurück zu ihrer schmalen, aufrechten Gestalt.

„Viel Glück", murmelte ich.

Für uns alle.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt