58 | Amicus certus in re incerta cernitur

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Ich erwachte in vollkommener Dunkelheit. Der Boden unter mir war unregelmäßig und hart, die Luft kühl und abgestanden. Kein Geräusch außer meinem eigenen Atem war zu hören.

Vorsichtig tastete ich um mich herum. Nur weiterer kalter Steinboden. Direkt neben mir eine Wand, aus genau demselben Material wie der Boden. Ich richtete mich ein Stückchen auf und fuhr mit den Fingern höher. Etwa dreißig Zentimeter über dem Bodem war ein Ring in der Wand befestigt, an dem eine solide Metallkette hing.

Ich näherte mich der Unregelmäßigkeit. Ein ungewohntes Gewicht zog meinen linken Knöchel nach unten. Sofort wurde mir schlecht. Ich tastete an meinem Bein entlang, bis ich auf einen eiskalten, dicken Ring stieß. Er hing an einer Kette, die sich viel zu ähnlich zu der an der Wand anfühlte.

Mein Herz fing an zu rasen. Nein, das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein. Es war alles nur ein böser Traum gewesen. Ich träumte das hier nur.

Doch die Erinnerungen strömten auf mich ein. Der Stein der Weisen, Lorenzos Nachricht, der Kampf im Turm. Das glockenhelle Lachen der Erdbändigerin. Tina, deren Herz einfach stehengeblieben war. Die Wände, die meine Magie verschluckt hatten.

Was passiert war, war klar. Was schiefgelaufen war, ebenfalls. Denn es war niemand zur Hilfe gekommen. Weder Max, noch Lorenzo, Thea oder Frau Schwab. Hysterische Tränen stiegen in meine Augen. Ich war gescheitert, mein gesamter Plan war gescheitert. Erneut.

Die Tränen ließen sich nun nicht mehr aufhalten. Tina war tot. Ich war alleine, gefangen in einem düsteren Steinraum. Wie hatte es nur so katastrophal enden können?

Mein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt, der Steinboden grub sich in meine Haut. Kalt, unnachgiebig, trostlos. Ich vermisste Theas Wärme, sogar die Wärme unseres Zimmers. Doch hier war niemand, der mich auffangen konnte. Hier war nichts als Stille.

Bilder schossen mir durch den Kopf, Bilder von Tina, von Hoffnung. Von ihrem Lachen. Ihrer Positivität. Ihrem Strahlen, als Leonie bereit war, den Streit halb zur Seite zu legen. Doch all das wurde überschattet von den Vorfällen im Turm.

Ich spürte die Eissplitter in meine Haut schneiden, als wären sie tatsächlich da. Die Eiseskälte der durchsichtigen Wände, die sich zwischen meine Freundin und mich geschoben hatten. Warum war ich die einzige gewesen, die für ihr Leben gekämpft hatte? Warum hatte Lorenzo uns zwar die Nachricht zukommen lassen, aber nicht geholfen? Warum war Thea nicht gekommen?

Wahrscheinlich war Thea zu langsam gewesen. Frau Schwab nicht auffindbar, genauso wie alle anderen. Und in Lorenzo hatte ich mich schlicht und einfach getäuscht. Genau wie in Max. Plötzlich machte es Sinn, was in dem Geheimgang passiert war. Es war nicht so, als hätte ihn irgendetwas daran gehindert, Magie einzusetzen, er hatte einfach keine gehabt. Und hatte es auch nicht für notwendig empfunden, mir das mitzuteilen.

Die Erkenntnis zerriss mir das Herz. Ich hatte gedacht, ich hätte endlich Menschen gefunden, denen ich vertrauen konnte, auf dich ich mich verlassen konnte. Doch alle hatten Tina und mich im Stich gelassen. Und nun saß ich hier. Alleine, gefesselt, in der Dunkelheit.

Warum hatte ich mich nicht einfach aus den Morden herausgehalten? Versucht, mein Leben weiterzuleben, nachdem ich die erste Leiche gefunden hatte? Vielleicht läge ich dann gerade friedlich in meinem Bett, an Thea gekuschelt. Vielleicht wäre ich gerade bei den Maispielen, zusammen mit Matthias, Elaine und den anderen. Vielleicht würden wir mit Tina Leonies Schachpartie anschauen. Ich wusste nicht einmal mehr, wie viel Zeit vergangen war, seitdem ich im Turm gewesen war.

Zeit. Das war es. Es war nicht so, als könnte ich nichts tun. Der Grund, weshalb ich mich in die Ermittlungen gestürzt hatte, war, Kathi zu helfen. Thea zu helfen, auf der Schule zu bleiben. Das Gefühl zu haben, dass Gerechtigkeit siegte.

Der Ruf der ErdeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt