Kapitel 01

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Ich quetsche meinen Lieblingspullover in die bereits viel zu überfüllte Reisetasche. Irgendwann einmal wird sie daran zerbrechen, dass ich mich nie entscheiden kann, was ich genau mitnehmen will. Aber ich brauche einfach diese Gewissheit, auch außerhalb von zu Hause, eine Wahl zu haben - am besten aus mehreren Teilen.

Erneut nehme ich die Liste in die Hand, um nachzusehen, dass ich auch ja nichts vergessen habe.

Die Liste existiert bereits seit einigen Jahren und ich habe sie immer wieder an den aktuellen Stand angepasst. Manchmal habe ich sie leider auch im Urlaub erweitern müssen, wenn dann doch etwas gefehlt hat.

Vorsichtshalber gehe ich sie mehrmals durch, bevor ich den Reißverschluss mit Mühe zuziehe.

"Larissa, wie weit bist du mit packen?" Völlig außer Atem lehnt sich meine Mutter zur Tür herein. Sie und mein Vater haben wohl schon ihre Koffer zum Auto geschleppt. Sieben Stockwerke nach unten und dann nochmal einige Meter zum Gemeinschaftsparkplatz.

"Gerade fertig. Kann ich irgendwie helfen?"

"Bist du so lieb und hilfst deinem Bruder?", bittet sie und erklärt etwas leiser: "Ich muss noch sein Geschenk einpacken und nach unten bringen."

Ich nicke und mache mich auf den Weg in Luis Zimmer. Ratlos steht er vor seiner Tasche und überlegt, was er wohl braucht.

Er schenkt mir ein dickes Grinsen, als ich den Raum betrete. "Lissa, du musst mir unbedingt helfen!" Er zieht mich zu sich nach unten vor sein Bett. "Wen nehme ich mit?" Er zeigt auf eine Auswahl an Kuscheltieren, die sorgsam nebeneinander aufs Bett gelegt worden waren. "Also Igel muss mit. Aber ich kann mich nicht zwischen Bärchen und Schildi entscheiden. Und Häschen würde ich eigentlich auch gerne mitnehmen." Er sieht mich mit seinen großen Augen an.

"Nimm sie doch alle mit", schlage ich vor.

Entschieden schüttelt er den Kopf. "Mama hat gesagt, ich darf nur zwei mitnehmen."

"Hm - wen hattest du denn letztes Jahr mit?"

"Das weiß ich nicht mehr." Schuldbewusst blickt er zu seinen Plüschtieren. "Was wenn jemand sauer ist, weil ich ihn nicht mitgenommen habe?"

"Bestimmt nicht."

"Doch, wenn sie sich erinnern, wen ich letztes Jahr mitgenommen habe und der wieder mitdarf. Das ist ja unfair."

"Mach ene mene mu", versuche ich mein Glück zum Lösen seines Dilemmas.

Für meinen Vorschlag ernte ich jedoch einen vorwurfsvollen Blick. "Ich meine das ernst Lissa."

"Ja, du hast recht. Ähm. Und wenn du Igel und Schildi mitnimmst?"

"Warum Schildi?"

"Also -", fieberhaft suche ich nach einer guten Erklärung, um endlich mit dem eigentlichen Problem - dem Packen - beginnen zu können.

"Weil Igel und Schildi sich am besten verstehen", erkläre ich vorsichtig, in der Hoffnung, er akzeptiert meinen spontanen Einfall.

Skeptisch sieht mich mein kleiner Bruder an. Dann zu seinen Kuscheltieren.

Er nickt und wir können endlich mit Packen beginnen. Besser gesagt ich, denn Luis widmet sich dem Abschied von den Tierchen, die zu Hause bleiben müssen.

Da er ohnehin nicht wählerisch mit seinen Klamotten ist, packe ich das Nötigste ein - ohne allzu viel Auswahl. Zum Dank bekomme ich eine überschwängliche Umarmung von ihm.

Ich helfe meinen Eltern die letzten Sachen runter zum Auto zu bringen. Und dann geht es los.

Meine Mutter lenkt den Wagen raus aus der Stadt, Richtung Italien. Seit einigen Jahren ist es zur Tradition geworden, jedes Jahr um dieselbe Zeit, nach Italien zum Gardasee zu fahren. Vor einigen Jahren sind Freunde meiner Eltern dorthin ausgewandert, welche wir nun einmal jährlich besuchen.

GeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt